Archiv für den Monat Juni 2020

Heißer Samstag in Horst? (mit Update)

Werbung für die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM), Berlin 2008.

Geplant hat die MLPD für den morgigen Samstag um 14 Uhr eine feierliche Enthüllung der Lenin-Statue vor der Horster Mitte mit mindestens 300 Besuchern und 50 Pressevertretern, Redebeiträgen, Grußworten, knusprigen Hähnchen, echten Thüringer Bratwürsten sowie Kaffee und Kuchen von 12 bis 18 Uhr; auf Gesundheitsschutz werde geachtet. Aufmerksamkeit war ihr sicher, seit die Partei, die Marx und Lenin in ihrem Namen trägt, angekündigt hatte, eine Lenin-Statue aufstellen zu wollen.

Zweimal war die Stadt Gelsenkirchen mit vorgeschobenen Denkmalschutzgründen an der Verhinderung der Aufstellung vor Gericht gescheitert, für eine Resolution der Bezirksvertretung West hatte sich in der Ablehnung der Aufstellung eine ganz große Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der CDU bis zur AfD gebildet. In der Bevölkerung ist diese Ablehnung – vielleicht auch nur das Interesse daran – nicht so deutlich erkennbar: bei einer Umfrage von Radio Emscher-Lippe ist ein knappes Drittel dagegen, eine Online-Petition gegen die Aufstellung erreichte gut 200 Stimmen. In der Glashalle von Schloss Horst, direkt gegenüber der Lenin-Statue, zeigen seit heute das Institut für Stadtgeschichte und das Erlebnismuseum Schloss Horst die Wanderausstellung „Der Kommunismus in seinem Zeitalter“.

Ferner hat die Stadt Gelsenkirchen unter dem Hashtag #keinplatzfuerlenin Statements zur Aufstellung der Lenin-Statue gesammelt. Bereits das erste Statement in der alphabetischen Auflistung spricht mir aus der Seele: „Für meinen Geschmack gab es in der Debatte über das Denkmal zu viele antikommunistische Reflexe. Ist das heute noch notwendig, auf ein totes Pferd einzuschlagen? Kurz gesagt bin ich eigentlich der Meinung: wenn wir noch zig Bismarckdenkmäler haben, können wir auch ein Lenindenkmal akzeptieren, auch wenn wir keine Leninisten sind und Lenin eher kritisch gegenüberstehen. Ich finde, eine demokratische Gedenkkultur muss diese Spannungen aushalten.“ (Prof. Dr. Stefan Berger, Direktor des Instituts für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum).

Gegendemonstrationen haben ab 13 Uhr die AfD und ab 14 Uhr die rechte Gruppierung „NRW stellt sich quer“ angekündigt. In der aktuellen Presseerklärung des Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung heißt es: „Die rechtsextreme Gruppe ‚NRW stellt sich quer‘ ist seit einiger Zeit verstärkt in Gelsenkirchen aktiv (…) Die Gruppe, die beste Kontakte zu gewaltbereiten faschistischen Strukturen hat und im aktuellen Verfassungsschutzbericht 2019 namentlich erwähnt wird, versucht an die Empörung über die Statue anzuknüpfen und sich in Szene zu setzen.“ Auf ihrer Facebook-Seite (NRW stellt sich Quer) werde aufgerufen, gegen den „faschistischen Kommunismus“ aktiv zu werden. „Das Umlabeln des ‚Faschismusbegriffes‘ ist eine Taktik der rechten Strukturen“, erläutert Paul Erzkamp vom Aktionsbündnis. „Damit soll von dem Deutschen Faschismus und dem Holocaust abgelenkt werden und beides relativiert (werden). Rassistischen und nationalistischen Gruppen geht es nicht um eine fundierte und legitime Kritik an Lenin, Oktoberrevolution oder Stalinismus, sondern sie versuchen die emotionalisierte Debatte zu missbrauchen, um sich als ‚Deutsche Beschützer‘ aufzuspielen.“

Möglicherweise werden wir in Horst morgen einen öffentlichen Schulterschluss zwischen der AfD und einer weiteren rechten Gruppierung erleben. Das Aktionsbündnis hat angekündigt die Situation zu beobachten.

Update

Die „Gegendemonstrationen“ der Rechten waren spärlich besucht: die AfD konnt etwa 20, „NRW stellt sich quer“ etwa 30 Personen mobilisieren. Die AfD-Anhänger waren der WAZ vom 22.06.2020 zufolge „von ihrem Versammlungsort an der Brücke zu Schloss Horst“ für die Anhänger der MLPD so gut wie nicht sichtbar und beendeten bereits vor der Enthüllung der Lenin-Statue um 15 Uhr ihren Protest. Die übriggebliebenen Rechten „beließen es während der Enthüllungszeremonie bei Zwischenrufen“, so die WAZ weiter.

Vorurteile als Vernebelungstaktik statt Kritik am Neoliberalismus

Gelsenkirchener 1.-Mai-Kundgebung 2013, in der Bildmitte der damalige NGG-Vorsitzende Franz-Josef Möllenberg, der bereits damals deutliche Kritik an den Werkverträgen in der Fleischindustrie übte.

In den öffentlichen Äußerungen angesichts des jüngsten Corona-Hotspots der Fleischindustrie, diesmal im Kreis Gütersloh beim Branchen-Riesen Tönnies, wird eine Funktion des Vorurteils deutlich wie schon lange nicht mehr. Da wird mal eben vom NRW-Ministerpräsidenten Laschet (CDU) behauptet, dass die Heimaturlaube der osteuropäischen Arbeiter schuld am Ausbruch des Corona-Virus seien. Es gibt keinen seriösen Nachweis dafür, doch bevor überhaupt geklärt ist, wie sich das Virus verbreiten konnte, wird mal eben schnell eine Begründung geliefert, um von den tatsächlichen Zuständen abzulenken.

Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will nun – endlich – Werkverträge in der Branche untersagen, um die Arbeitsbedingungen in der Branche zu verbessern. In der Kritik steht vor allem das System der Subunternehmer und die Unterbringung der rumänischen und bulgarischen Arbeiter in Sammelunterkünften. Dabei ist das keine neue Erkenntnis. Ich erinnere mich noch gut an die 1.-Mai-Kundgebung 2013 in Gelsenkirchen, also vor 7 Jahren, als der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Franz-Josef-Möllenberg eine kämpferische Rede hielt und genau diese Verhältnisse anprangerte. Der Redetext liegt mir nicht vor, damals schrieb ich in meinem Blog: „Von den angekündigten Rednern hörte ich mir nur den NGG-Vorsitzenden Franz-Josef Möllenberg an, der eine gute Rede hielt, die alle wichtigen Themen abdeckte und nicht an kämpferischem Pathos sparte. Er kritisierte natürlich die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung und forderte angesichts der Probleme, die Deutschland mit seiner Niedriglohnpolitik in Europa verursacht, eine andere Politik. Beispielhaft verwies er auf das Lohndumping in der Schlachtbranche, wo in Deutschland Firmen mittels Werkverträge Arbeiter zu solchen Dumpinglöhnen beschäftigen, dass vernünftige Firmen mit besseren Arbeitsbedingungen in Dänemark oder Belgien Probleme bekommen.“

Bereits 2012 hatte Möllenberg die Fleischindustrie als prominentestes Beispiel für die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse bezeichnet („Werksverträge sind wie Krebs“) und – man wundere sich nicht – ausgerechnet Fleischfabrikant Tönnies kritisiert, der nur zu zehn Prozent mit eigene Arbeitnehmern arbeite. Der Rest laufe über Werksverträge mit polnischen oder rumänischen Fleischern für Löhne zwischen fünf und sieben Euro. Die Menschen würden benutzt, um unsere Standards und unser Tarifsystem zu unterlaufen. Damals forderte Möllenberg einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8.50 Euro, da die Gewerkschaftsbewegung nicht mehr stark genug sei, alles alleine zu regeln.

Doch die rechtliche Zulässigkeit von Werksverträgen anstelle von sicheren Normal-Arbeitsverhältnissen ist keine Naturnotwendigkeit, sondern Ergebnis einer neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte, die den unternehmerischen Gewinn in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und nicht den Menschen, der nur als Kostenfaktor gesehen wird. Leiharbeitsverhältnisse und Werkverträge dienen hier der Gewinnmaximierung durch Senkung betrieblicher Kosten und zugleich der Spaltung der Belegschaften auf Kosten von Arbeitern, die wie im aktuellen Fall Tönnies aus der Europäischen Union kommen, um hier unter Bedingungen zu arbeiten, für die sich kein Deutscher hergibt. Wer eine solche Politik nicht ändern will, gibt sich natürlich lieber dem eingangs genannten Vorurteil hin, anstatt eine andere Politik zu verfolgen.

Ist die Fleischindustrie systemrelevant?

Nachruf auf Klaus Ahlheim

Eine frühere Veröffentlichung aus dem Jahre 2002 – eine empirische Studie über NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns.

Wie ich heute Abend mittels einer Schneeball-E-Mail erfuhr, ist der emeritierte Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim am Mittwoch im Alter von 78 Jahren gestorben. Während meines Studiums der Diplom-Pädagogik an der Universität-Gesamthochschule Essen hatte ich ihn als sehr streitbaren Professor kennengelernt. Insbesondere die von ihm initierte Exkursion 1998 in die Gedenkstätte Buchenwald hatte dazu geführt, dass ich mich seitdem mit der NS-Vergangenheit aus pädagogischer Sicht beschäftige.

Er wurde am 28. März 1942 in Saarbrücken geboren, studierte unter anderem evangelische Theologie, war Studentenpfarrer in Frankfurt am Main und nach der Habilitation in Erziehungswissenschaft lange Jahre Professor für Erwachsenenbildung an der Philipps-Universität Marburg. 1994 wechselte er zur damaligen Universität-Gesamthochschule Essen und bekleidete dort ebenfalls die Professur für Erwachsenenbildung. Von uns Fachschaftsvertretern, die damals mit dem organisierten Chaos im Studiengang Diplom-Pädagogik unzufrieden waren, wurde er mit einem Besen und dem Satz „Neue Professoren kehren gut“ begrüßt. 2007 ging er in den Unruhestand und zog nach Berlin. Mein Studium war bereits 1999 mit meiner Diplomarbeit „Historisches Lernen in Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“ beendet gewesen, obwohl ich dort noch bis 2001 als wissenschaftliche Hilfskraft aushielt.

In Lehrveranstaltungen und Gesprächen war ihm die theologische Herkunft immer wieder anzumerken. Sein Werk umfasst zahlreiche Veröffentlichungen zu Grundfragen und Wirkung politischer Erwachsenenbildung, von denen mir neben „Mut zur Erkenntnis“ (1992) vor allem „Argumente gegen den Hass“ (1993) und „Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit“ (1998), beides pädagogische Handreichungen, in Erinnerung geblieben sind. Empirische Studien aus pädagogischer Sicht führte er gemeinsam mit Dr. Bardo Heger zu Fremdenfeindlichkeit in Deutschland („Der unbequeme Fremde“, 1999) und zum Umgang mit der NS-Vergangenheit („Die unbequeme Vergangenheit“, 2002) durch. Für mich neu war die Erkenntnis, dass Rechtsextremismus kein Problem junger Männer am rechten Rand der Gesellschaft ist, sondern der Mitte der Gesellschaft entstammt.

Seinem Weggang aus Marburg war ein heftiger Streit über die allzu braune Vergangenheit des emeritierten Marburger Sozialethikers Dietrich von Oppen und dem Umgang der Philipps-Universität Marburg mit der eigenen braunen Vergangenheit vorweggegangen, die er in „Geschöntes Leben“ (2000) nachgezeichnet hatte. Aktuelle geschichtspolitische Debatten nutzte er stets im Seminar oder in Veröffentlichungen für Angriffe aus pädagogischer Sicht. Zuletzt erlebte ich ihn in Essen während der Vorstellung seines damals jüngsten Werks, „Sarrazin und der Extremismus der Mitte“ 2011. Ein für mich bemerkenswerter Befund war eine Veränderung im Detail: während in den 1980er Jahren die Aussage „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ klar eine rechtsextreme Aussage war, findet sich diese inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft wieder und läßt nicht mehr unbedingt auf ein rechtsextremes Weltbild schließen.

Als Widmung schrieb er mir damals „Ach, Maßmann!“ ins Buch.

Erschienen in der taz vom 27./28.06.2020.

„8. Mai zum Feiertag machen“ Thema im Rat der Stadt Gelsenkirchen

Pressetermin des Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung am 03.06.2020 am VVN-Mahnmal im Stadtgarten (Foto Jonas Selter).

In Unterstützung der Kampagne des Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung, die Forderung der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und der VVN-BdA, den 8. Mai zum Feiertag zu machen, hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellvertretend für das Aktionsbündnis einen Antrag an den Rat der Stadt eingebracht, um das Thema in der Ratssitzung am 25. Juni 2020 zu diskutieren und zu beschließen. Hier der Antrag und die ausführliche und lesenswerte Begründung im Wortlaut. Die Links stammen natürlich nicht aus dem Ratsinformationssystem.

Zur Sitzung des Rates der Stadt Gelsenkirchen am 25. Juni 2020 beantragt die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN folgenden Tagesordnungspunkt:

8. Mai zum bundesweiten Feiertag erheben

Der Rat der Stadt Gelsenkirchen beschließt:
Die Stadt Gelsenkirchen unterstützt die Forderung der Holocaust-Überlebenden und Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e. V, Esther Bejarano, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erheben. Die Gelsenkirchener Stadtverwaltung setzt sich mit allen der Kommune zur Verfügung stehenden Mitteln öffentlich, auf Verbandsebene sowie insbesondere beim Land NRW und auf Bundesebene für die Erreichung dieses Zieles ein.

Des Weiteren beantragt die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Rahmen des Tagesordnungspunktes, den Vertreter*innen des „Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung“ Rederecht einzuräumen.

Begründung:

Das „Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung“ hat mit einem offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen sowie an die demokratischen Fraktionen im Rat der Stadt dazu aufgerufen, die Initiative von Esther Bejarano zu unterstützen, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erheben. Unter dem Motto #GEfeiert8Mai hat das Bündnis zudem eine Kampagne gestartet, über die die Stadtgesellschaft über die Initiative informiert wird und die eigene Unterstützung bekundet werden kann.
Die GRÜNE Ratsfraktion möchte mit diesem Antrag dazu beitragen, dass das Anliegen des Bündnisses auf kommunalpolitischer Ebene zur Befassung kommt und bringt stellvertretend für das Bündnis die entsprechende Forderung ein.

Im offenen Brief heißt es nämlich: „Natürlich wissen auch wir, dass die Stadt Gelsenkirchen formal nicht für die Bestimmung bundesweiter Feiertage zuständig ist. Ein entsprechendes Votum wäre dennoch, in Verbindung mit vergleichbaren Initiativen anderer Kommunen und Organisationen, ein wichtiges Signal sowohl an die lokale Einwohnerschaft wie an die politisch Verantwortlichen in Land und Bund, sich in diesem Sinne zu engagieren. Aus diesem Grund fordern wir Sie und den Rat der Stadt Gelsenkirchen dazu auf, sich mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden politischen und administrativen Mitteln dafür einzusetzen, dass der 8. Mai zum bundesweiten gesetzlichen Feiertag erklärt wird.“
In der von Esther Bejarano Anfang 2020 gestarteten Petition heißt es unter anderem: „Ich überlebte als Mitglied des „Mädchenorchesters“ das deutsche Vernichtungslager Auschwitz und konnte vor 75 Jahren auf dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ-Ravensbrück der SS entkommen. Ich bin Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der BRD e.V und Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes.“
Diese Petition haben bislang mehr als 100.000 Bundesbürger*innen unterzeichnet. Sie bekräftigen damit die Forderung, dem 8. Mai endlich auch in Deutschland jene Bedeutung beizumessen, die er in vielen europäischen Ländern seit jeher als Tag der Befreiung von der NS-Herrschaft besitzt.

Für die Stadt Gelsenkirchen gibt es insbesondere drei Gründe, diese Initiative ebenfalls zu unterstützen.
Der 8. Mai 1945, der sich 2020 zum 75. Mal jährt, ist die Geburtsstunde der heutigen demokratischen kommunalen Selbstverwaltung.
Der 8. Mai war nicht nur das Ende des vom NS-Faschismus ausgegangenen Zweiten Weltkrieges, eines aggressiven Eroberungs- und Vernichtungskrieges, in dessen Schatten auch der Holocaust stattgefunden hatte. Er markiert zugleich die Befreiung von der NS-Diktatur, die bereits 1933 als eine ihrer ersten Maßnahmen die kommunale Selbstverwaltung der Weimarer Republik zerstört und durch das Führerprinzip ersetzt hatte. Erst der 8. Mai 1945 schuf die Voraussetzungen für den demokratischen Wiederaufbau der Kommunen.
Diese Tatsache wird auf kommunaler Ebene bislang viel zu wenig gewürdigt. Der 8. Mai wäre das geeignete Datum, die Bedeutung dieser historischen Errungenschaft für die hiesige Bevölkerung dauerhaft bewusst zu halten und konkreter erlebbar zu machen.
Die Stadt Gelsenkirchen und ihre Bevölkerung waren vom Terror der NS-Diktatur, den Auswirkungen des Holocaust wie auch vom Krieg massiv betroffen. Die menschlichen und strukturellen Folgen sind bis heute wahrnehmbar:
Insgesamt verloren zwischen 1939 und 1945 rund 20.000 Gelsenkirchener Bürger*innen durch die Politik des NS-Regimes ihr Leben, darunter ca. 500 rassisch oder politisch Verfolgte, 7.000 Vermisste, 3.500 Zwangsarbeiter, 3.000 Bombenopfer und 10.340 tote Gelsenkirchener Soldaten.
Die massiven Luftangriffe der letzten Kriegsjahre legten nicht nur große Teile der kriegswichtigen Industrieanlagen, sondern auch der Wohnstadtteile in Schutt und Asche und zerstörten damit auf Jahre hinaus die Lebensgrundlage von Hunderttausenden.

Das Aufrüstungsdiktat vor dem Krieg und die durch die Kriegszerstörungen verursachte Notwendigkeit zur Kohle- und Stahlproduktion für den Wiederaufbau nach dem Krieg verurteilten die Stadt Gelsenkirchen zur Aufrechterhaltung ihrer schwerindustriellen Monostruktur und verhinderten frühzeitig mögliche andere Entwicklungswege. Diese einseitige wirtschaftliche Orientierung erwies sich spätestens in der Kohle- und Stahlkrise als wirtschaftspolitische Sackgasse und wirkt sich bis heute als nachhaltige Langzeitfolge negativ auf die lokale Wirtschaftsstruktur, den Arbeitsmarkt und damit auf die Lebensqualität eines beträchtlichen Teils der Gelsenkirchener*innen aus.
Der 8. Mai als Feiertag wäre das geeignete Datum, diese historischen Zusammenhänge und die damit verbundene Verantwortung für den Frieden gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen insbesondere in der jüngeren Generation stärker als bisher bewusst zu machen und mit Leben zu füllen.
Das aktive Gedenken an den 8. Mai ist ein klares Zeichen gegen Rechts. Inzwischen leben nur noch wenige Menschen, die eigene Erinnerungen an die NSZeit und den 2. Weltkrieg haben. Stattdessen erleben wir seit den 1990er Jahren einen verstärkten Aufschwung rechter und rechtsextremer Parteien in unserer Stadt, angefangen von den Republikanern, über Pro NRW bis hin zur AfD, die alle in den Rat der Stadt eingezogen sind. Nach Hakenkreuzschmierereien und Morddrohungen gegenüber Politiker*innen erleben wir gerade in jüngster Zeit, wie sich rechte Strukturen auch in unserer Stadt herausbilden, wachsen und aktuelle Unsicherheiten für ihre Ziele auszunutzen versuchen.
Oberbürgermeister Frank Baranowski hat in seiner Rede am 9. November 2019 während der Gedenkveranstaltung der Demokratischen Initiative anlässlich der Reichspogromnacht angemerkt: „Wir stellen fest, dass auch in Deutschland antisemitische Einstellungen nicht verschwunden sind. (…) Zugleich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Rechtsextremismus kein Phänomen von Randgruppen ist.“ Dies dürften die Gelsenkirchener Demokraten nicht akzeptieren: „Und für Nazis gibt es eben keine Toleranz! Das darf nirgendwo in Deutschland der Fall sein, und schon gar nicht in unserer Stadt, Gelsenkirchen!“
Gegenüber der erstarkenden Rechten, die sich „das Land und die Geschichte“ zurückholen will und dabei gezielt die schwierige soziale Lage der Stadt sowie die daraus bei vielen Menschen hervorgerufene persönliche Unsicherheit ausnutzen, wäre es ein starkes demokratisches und antifaschistisches Signal, den 8. Mai bundesweit zum Feiertag zu erklären. Eine solche Aufwertung dieses Tages kann dazu beitragen, die Bedeutung der Befreiung 1945 für unsere heutige demokratische Verfassung stärker bewusst zu machen und ein konsequenteres politisches Handeln gegen rechts gerade auch vor Ort durchzusetzen. Der Tag könnte zudem gezielt für Bildungs- und Aufklärungsarbeit genutzt werden, an der sich im besten Fall zahlreiche Akteur*innen mit verschiedensten Angeboten im gesamten Stadtgebiet beteiligen.
Nicht zuletzt, diese eindeutige Zielsetzung bewegte den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, den Vorschlag ebenfalls zu unterstützen: „Der 8. Mai sollte gesetzlicher Feiertag werden – als ein Tag gegen Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung jeglicher Form.“
Aus den genannten Gründen liegt es im Interesse der Stadt Gelsenkirchen und aller ihrer Bürger*innen, sich mit allen zur Verfügung stehenden politischen und administrativen Mitteln dafür einzusetzen, dass der 8. Mai zum bundesweiten gesetzlichen Feiertag erklärt wird.

Mörderisches Finale auch in Gelsenkirchen

Neuausgabe 2020 von Ulli Sanders „Mörderisches Finale“.

Zufällig zur aktuellen Kampagne passend, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus zum Feiertag zu erklären, erschien kürzlich die Neuauflage von „Mörderisches Finale“ von Ulrich Sander. Das Buch, dessen Umfang gegenüber der ersten Auflage von 2008 um 90 Seiten gewachsen ist, schildert auf nunmehr 282 Seiten Verbrechen der Nazis gegen Kriegsende im Jahre 1945 und zeigt einmal mehr die ganze Unmenschlichkeit des Naziregimes. Die Verbrechen in der Endphase des Krieges waren sowohl örtliche Amokläufe wie Teil der Nachkriegsplanung der Nazis, unliebsame Zeugen ihrer Verbrechen und Anhänger eines demokratischen Neuaufbaus zu beseitigen.

Als die erste Auflage 2008 erschien, handelte es sich um das erste Buch zur Geschichte der Kriegsendphasenverbrechen, zusammengetragen als journalistische Arbeit auf der Basis von zahlreichen Berichten. Inzwischen hat sich auch die Geschichtswissenschaft dem Thema zugewandt. Und trotz der lange verstrichenen Zeit gab es in den vergangenen Jahren noch immer Neu- und Wiederentdeckungen oft vergessener und verdrängter Verbrechen.

In der Neuauflage kommen auch Gelsenkirchener Verbrechen vor. In der alphabetischen Auflistung der Tatorte taucht unsere Stadt mit den beiden in Gelsenkirchen bekannten Erschießungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Stadtgarten (Alt-Gelsenkirchen) und im Westerholter Wald (Gelsenkirchen-Buer) unmittelbar vor Kriegsende sowie weiteren Erschießungen an anderen Orten auf. Vor dem Polizeipräsidium in Gelsenkirchen-Buer erinnert inzwischen eine von der Arbeitsgruppe Stolpersteine in das Pflaster eingelassene Stolperschwelle an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, im Stadtgarten eine Erinnerungsortetafel an das dortige Verbrechen. Die Recherchen von Andreas Jordan (Gelsenzentrum e.V.) zu den Vorfällen in Buer gingen in die Veröffentlichung ein.

Ulrich Sander: Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945, Köln 2020

Herzlichen Glückwunsch!

Alice und Juri am 17.05.2019 im Subversiv Gelsenkirchen.

Alice Czyborra, Anfang Juni 1940, während die Nazi-Wehrmacht Paris besetzte, als Kind zweier Flüchtlinge dort geboren, feiert in diesen Tagen im Kreise ihrer Lieben ihren 80. Geburtstag.

Seit langem engagiert sie sich in der VVN-BdA für die Erinnerung an Widerstand und Verfolgung. Sie ist regelmäßig bei Demonstrationen gegen Nazis in alten und neuen Gewändern dabei, fährt seit Jahren mit der Gewerkschaftsjugend in ehemalige Konzentrationslager und an Gedenkorte und ist Mitbegründerin der „Kinder des Widerstandes“, die die Zeitzeugenarbeit der Elterngeneration fortsetzt.

In Gelsenkirchen war sie zuletzt am 17.05.2019 im Subversiv und hat dort gemeinsam mit ihrem Sohn aus dem bewegten Leben ihrer Familie erzählt.

Kampagne #GEfeiert8Mai des Aktionsbündnisses!

Der Hashtag der Kampagne des Aktionsbündnisses: Hochhalten und mitmachen!

Gerade erst begonnen hat die Kampagne des Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung, mit der das Bündnis ein deutliches Signal auch aus Gelsenkirchen fordert, den 8. Mai zum Feiertag zu machen. Nach der kontaktlosen Menschenkette am 8. Mai im Stadtgarten hat das Bündnis einen Offenen Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen und die demokratischen Parteien im Rat der Stadt mit dieser Forderung geschickt.

Im Facebook-Eintrag des Bündnisses heißt es: „Denn gerade in der aktuellen Situation ist es wichtig ein klares Zeichen für Demokratie und Solidarität auszusenden. Gemeinsam mit der Stadtgesellschaft wollen wir bekräftigen, dass wir auch und immer noch 75 Jahre nach Kriegsende weltweit gegen Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus eintreten und kämpfen. Dazu fordern wir einen freien Tag, an dem Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu aktuellen antifaschistischen Themen geleistet, auf den historischen Faschismus zurückgeblickt, an seine Opfer gedacht werden und die Befreiung von Nazi-Deutschland gefeiert werden kann!“

Diese Kampagne kann jede Gelsenkirchenerin und jeder Gelsenkirchener mit Bildern oder kurzen Videos unterstützen, auf denen sie oder er den Hashtag #GEfeiert8Mai hochhält und dabei erklärt, warum der 8. Mai ein Feiertag werden soll. Die Fotos oder Videos können per Facebook oder an die E-Mail-Adresse des Bündnisses AB-GE@mailbox.org geschickt werden. Die gesammelten Statements sollen noch vor der nächsten Sitzung des Rates der Stadt Gelsenkirchen am 25. Juni in einer gemeinsamen starken Botschaft veröffentlicht werden.