Archiv für den Monat Januar 2013

Zweifaches Gedenken

Trotz des unangenehmen Wetters fanden sich um 16 Uhr rund 30 Interessierte zur Gedenkveranstaltung von Gelsenzentrum am früheren Wildenbruchplatz vor der neuen Polizeiwache ein. Zu den Anwesenden gehörten u.a. auch die örtliche Linke-Direktkandidatin Ingrid Remmers und die neue Linke-Bezirksvertreterin für Gelsenkirchen-Nord, Bianca Thiele.

Holocaust-Gedenktag 27.01.2013 Gelsenkirchen 01Anlass für den Gedenktag ist in Gelsenkirchen ein zweifacher. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die letzten Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Aus diesem Anlass wird inzwischen jedes Jahr in vielen Ländern der Erde an den industriellen Massenmord der Nazis erinnert. Zugleich wird hier in Gelsenkirchen an die erste Deportation jüdischer Männer, Frauen und Kinder am 27. Januar 1942 aus Gelsenkirchen in das Ghetto Riga erinnert.

Holocaust-Gedenktag 27.01.2013 Gelsenkirchen 02Andreas Jordan (hier in der Bildmitte) fand angemessene Begrüßungsworte und verlas ein Grußwort des jetzt in Florida lebenden Holocaust-Überlebenden aus Gelsenkirchen, Herman Neudorf. Daran anschließend wurden die mitgebrachten Kerzen („Gelsenkirchener Lichter“) entzündet und gedachten die Anwesenden der zurückliegenden Ereignisse.

Nach einer halben Stunde schloss Andreas Jordan die Gedenkveranstaltung mit der Überlegung, die Erinnerung an diesem Ort durch eine Gedenktafel dauerhaft zum Ausdruck zu bringen.

Kulturelles Überleben oder Trost und Hoffnung inmitten der Barbarei

plakat_ilse_weber_gelsenkirchen_gelsenblog„Eingemauerte Lyrik“ hatte Hugo-Ernst Käufer, der frühere Leiter der Gelsenkirchener Stadtbücherei (und offenbar noch immer nicht im Ruhestand), seine Besprechung der Veröffentlichung von erschütternden Briefen und Gedichten der tschechisch-jüdischen Schriftstellerin Ilse Weber doppeldeutig überschrieben. Ilse Weber, 1903 in Witkowitz (Mährisch-Ostrau) geboren, sei schon in jungen Jahren eine beachtete Lyrikerin und Jugendbuchautorin gewesen, schreibt Käufer. Vor der wachsenden Judenfeindlichkeit zog sie mit ihrem Mann Willi und zwei Kindern nach Prag, bis sie schließlich von den Nazis am 6. Februar 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Im KZ Theresienstadt betreute sie als Oberschwester die Kinder der Krankenstube und wurde schließlich in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie am 6. Oktober 1944 mit ihrem jüngeren Sohn Tomás ermordet wurde.

Die Gedichte und Lieder, die sie unter anderem als Trost für die Kinder und Mitverfolgten geschrieben hatte, mauerte ihr Mann vor der Deportation im Boden des Geräteschuppens ein. Eingemauert im KZ Theresienstadt waren die Gedichte entstanden, eingemauert konnten sie die Vernichtung ihrer Schöpferin überstehen. Nach dem Krieg konnte ihr Mann die vergrabenen Gedichte unter widrigen Umständen wieder an sich bringen und im Herbst 1945 seinen älteren Sohn Hanuš wiedersehen. Die Hoffnung, seine Frau und seinen jüngeren Sohn wiederzusehen muss Willi Weber spätestens 1946 aufgeben.

Es war ein anonymes Gedicht mit dem Titel „Brief an mein Kind“, gefunden im Archiv von Yad Vashem, dass die spätere Herausgeberin von Ilse Webers Briefen und Gedichten auf die Spur der Schriftstellerin brachte. Wie Daniel Graf in seiner Rezension schildert, hatte Ulrike Migdal 1986 eine Sammlung von Chansons und Satiren aus dem KZ Theresienstadt mit dem anonymen „Brief an mein Kind“ herausgegeben. Nach der Veröffentlichung bekam sie im darauffolgenden Frühjahr Post aus Stockholm: „Die Autorin des Gedichts ›Brief an mein Kind‹ ist meine in Auschwitz ermordete Mutter, Ilse Weber. Und ich bin Hanuš, das Kind, von dem dieser Brief spricht.“ Es folgten weitere Recherchen, die schließlich zur Buchveröffentlichung „Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt“ im Münchener Hanser-Verlag 2008 führten.

Ilse Weber dichtet in traditionellen Liedformen, metrisch und gereimt, und zum Teil selbst vertont. Mit Kinderreimen wie „Rira, rirarutsch, / wir fahren in der Leichenkutsch“ zeigt sie die pervertierte Wirklichkeit des „Vorzeige-Konzentrationslagers“ Theresienstadt auf. In anderen Gedichten versucht sie Trost zu geben, sucht für sich und andere einen Rest Hoffnung inmitten der Barbarei zu bewahren. Berühmt wurde ihr Gedicht „Ich wandre durch Theresienstadt“:

Ich wandre durch Theresienstadt,
das Herz so schwer wie Blei,
bis jäh mein Weg ein Ende hat,
dort knapp an der Bastei.

Dort bleib ich auf der Brücke stehn
und schau ins Tal hinaus:
Ich möcht so gerne weitergehn,
ich möcht so gern – nach Haus!

»Nach Haus!« – du wunderschönes Wort,
du machst das Herz mir schwer,
man nahm mir mein Zuhause fort,
nun hab ich keines mehr.

Ich wende mich betrübt und matt,
so schwer wird mir dabei,
Theresienstadt, Theresienstadt
– wann wohl das Leid ein Ende hat –

wann sind wir wieder frei?

Die vorletzte Zeile, „Wann wohl das Leid ein Ende hat“ wurde zum Titel nicht nur der von Ulrike Migdal herausgegebenen Briefe und Gedichte von Ilse Weber, sondern auch des musikalischen Programms, welches Gelsenzentrum in Kooperation mit Michaela Sehrbrock und Marion Steingötter am Montag, dem 21. Januar 2013 ab 19.30 Uhr im Kulturraum „die flora (Florastr. 26, 45879 Gelsenkirchen) aufführen. Der Eintritt kostet 10 Euro, ermäßigt 8 Euro.

Die Opernsängerin Michaela Sehrbrock präsentiert sowohl eine Reihe unvertonter als auch erhalten gebliebener vertonter Gedichte und wird dabei von Marion Steingötter am Klavier begleitet. Michaela Sehrbrock, in München geboren, studierte im Fach Musiktheater und Gesang an der Folkwang-Hochschule Essen bei Frau Prof. Csilla Zentai und ist seit 1997 Mitglied im Opernchor Essen. Darüber hinaus wirkt sie bei Liederabenden, Kirchenkonzerten sowie freien Opern- und Musicalinszenierungen mit und nimmt kleinere solistische Partien in Opern am Aalto-Theater Essen wahr.

Marion Steingötter studierte Musik an der Universität Mainz und der Musikhochschule Köln. Ihre Gesangsausbildung erhielt sie bei Frau Prof. Mechthild Georg. Während ihrer langen freiberuflichen Tätigkeit erarbeitete sie sich ein breites Repertoire, das Musikstile vom Mittelalter bis zur Moderne umfasst. Seit 2001 ist die Altistin Mitglied des Opernchors des Aalto-Theaters Essen.

Zum ersten Mal traten die beiden mit ihrem Programm in der Matinee im Schloss Horst anlässlich der Stolpersteinverlegung von Herman Neudorf auf. Ich freue mich schon darauf, die beiden wieder zu hören und zu sehen.