Archiv für den Monat November 2022

Beeindruckender Zeitzeuge in Gelsenkirchen

Am Volkstrauertag war mit dem hochbetagten Horst Selbiger ein beeindruckender Zeitzeuge in Gelsenkirchen und erzählte aus seinem Leben. Eingeladen hatten zu der gut besuchten Veranstaltung das BonniMax in der Lukaskirche in Gelsenkirchen-Hassel, die Schalker Fan-Initiative und die Falken. Der 1928 in Berlin geborene Horst Selbiger, Sohn eines Zahnarztes, erzählte zunächst von glücklichen Tagen seiner Vorschulzeit. Auch darf der jüdische Vater nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 noch weiter als Zahnarzt arbeiten, da Anfangs eine Ausnahme für Frontkämpfer des (Ersten) Weltkrieges gemacht wurden. Doch bereits 1934 ist die glückliche Kindheit mit der Einschulung in Grundschule als einziger Jude vorbei. Persönliche Stärkung brachte ihm der jüdische Sportverein Makkabi, wo er Boxen lernte.

Besser wird es 1938 mit dem Wechsel auf die Jüdische Mittelschule, wo er mit anderen jüdischen Kindern unterrichtet wird. Die Lehrenden, die nur noch jüdische Kinder unterrichten dürfen, schätzen sie. Hier gibt es keine Trennung der Geschlechter, Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet. Ausführlich und mit viel Gefühl schildert der 94jährige seine Jugendliebe, ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen, die wunderbar „mit den Wimpern klimpern“ konnte. Noch können die jungen Leute die gemeinsame Zeit genießen.

Weiter berichtet Horst Selbiger von den Vorbereitungen zum nicht aufgeführten Theaterstück über die biblische Gestalt Esther, deren Rolle seine große Liebe übernimmt und die in seiner Erinnerung mit der kämpferischen, biblischen Esther verschmilzt. Mit der Schließung der jüdischen Schulen 1942 werden die inzwischen 14 Jahre alten Schülerinnen und Schüler zu Zwangsarbeitenden. Während seine Freundin Leichen waschen und Gräber für die gestiegene Anzahl jüdischer Selbstmörder ausheben muss, muss Horst Selbiger Metallteile in eine stinkende Brühe tauchen. Im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion werden die letzten noch in Berlin lebenden Juden 1943 zur Deportation zusammengetrieben. Horst Selbiger wird vom Arbeitsplatz in Hemd und Hose im bitterkalten Februar auf den LKW getrieben. In der ehemaligen Synagoge eingesperrt, können sich die Liebenden unter unsäglichen Bedingungen noch einmal begegnen, bevor die Nazis sie endgültig auseinanderreißen. Erst später erfährt Horst Selbiger, dass sie bereits kurze Zeit später in Auschwitz ermordet wurde. Er selbst überlebt und wird als 17jähriger von den Allierten befreit.

Das Publikum ist erkennbar beeindruckt von dem Erzählten. Nur zögernd kommen Fragen und Anmerkungen, insbesondere von den jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern.

Wer sich – neugierig geworden – weiter mit dem Lebensweg von Horst Selbiger beschäftigt, stößt im Internet (1, 2) wie in seiner Buchveröffentlichung auf viel mehr. Am besten liest man selbst nach, wie er in seinem Buch „Verfemt – verfolgt – verraten“ zum Beispiel über den 9. November 1938 berichtet oder über seine Übersiedlung in die 1949 entstehende Deutsche Demokratische Republik, die er angesichts der Rückkehr der alten Nazis in die Ämter der entstehenden Bundesrepublik als das bessere Deutschland empfindet. Doch auch in der DDR wird er nicht heimisch, fällt als Mitglied der SED 1953 in Ungnade. 1964 nutzt er nach weiteren Enttäuschungen über die Entwicklung in der DDR die Gelegenheit eines journalistischen Auftrages und bleibt in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere die Entführung seines Mentors und guten Freundes Heinz Brandt durch die Staatssicherheit der DDR aus West-Berlin und dessen anschließende Verurteilung zu 13 Jahren Haft wegen „schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ erschütterten ihn sehr.

In der Bundesrepublik wird sein Antrag auf Entschädigung für die Nazi-Zeit abgelehnt, da er sich mit seinem Übertritt in die DDR 1949 „gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung“ betätigt habe. Erst ein Gerichtsurteil hilft ihm zur Anerkennung als politisch und rassisch Verfolgter, die Gesundheitsschäden durch Verfolgung und Zwangsarbeit werden jedoch nicht anerkannt. Nach fast 15 Jahren entscheidet das Gericht 1978 gegen einen Entschädigungsanspruch, „da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den bei ihm aufgetretenen Erkrankungen und der nationalsozialistischen Verfolgung nicht wahrscheinlich ist“. Aus gesundheitlichen Gründen konnte Horst Selbiger nach dieser langen Zeit einfach nicht mehr weiterkämpfen.

Selbiger, Horst: Verfemt – verfolgt – verraten. Abriss meines Lebens, Spurbuchverlag, Baunach, Auflage 2018; € 19,80

Bericht in der WAZ hier.

13. Herbstlicher Gelsenkirchener Abgesang wider die heraufziehende Kälte

Nach dem Corona-Loch und trotz gesundheitlicher Probleme ergibt sich nach 4 Jahren Pause für Karmelita Gaertig und Leo Kowald wieder die Möglichkeit, den „Herbstlichen Gelsenkirchener Abgesang“ im LaLoK durchzuführen, dieses Mal unterstützt vom Friedenschor Dülmen, der seit Jahren Aktionen gegen das Militärlager „Tower Baracks“ in Dülmen kulturell begleitet.

Das Konzert „Einseitige Friedenserklärung“ steht ganz unter dem Eindruck der Eskalation kriegerischer Politik in Europa, die inzwischen das Leben der Menschen auf der ganzen Erde bedroht und den Weg in eine bessere Zukunft verstellt. Es soll an die verschütteten und vergessenen eigenen Lehren und Erfahrungen aus der Geschichte erinnern, um neue Wege zum Frieden, heraus aus der tödlichen Gewaltspirale, zu finden.

Das Konzert findet am Freitag, 9. Dezember 2022, ab 20 Uhr im LALOK-libre, Dresdener Str. 87/Ecke Grillostraße in 45881 Gelsenkirchen-Schalke statt. Einlass ist bereits eine halbe Stunde früher.

Der Eintritt ist frei, am Schluss geht ein Hut rum für die Auslagen der Künstler.