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Gelesen: „Er, Sie und Es“ von Marge Piercy

Mit dem Roman „He, She and It“ (Er, Sie und Es, 1993) hat die US-amerikanische Autorin Marge Piercy 1991 ein beeindruckend erzähltes Meisterwerk vorgelegt. Vor dem Hintergrund einer weitgehend zerstörten Erde der Zukunft und eingebunden in eine spannende Handlung verbindet sie Fragen um die Schaffung künstlichen Lebens mit unserer Wahrnehmung von Geschlechterrollen. Piercys Erde der Zukunft ist das Ergebnis von Kapitalismus, Klimawandel, Umweltzerstörung, Seuchen und Hungersnöte und uns angesichts einer weltweiten Pandemie und Klimakatastrophen, die inzwischen auch unser Land erreichen, heutzutage noch näher als es 1991 der Fall gewesen sein mag. Die im Roman dargestellte freie Stadt Tikva kann als dynamische Utopie für eine andere Zukunft als die geschilderte gesehen werden.

In dieser Zukunft gibt es einige hochtechnisierte Enklaven sogenannter „Multis“, in den unterschiedlich strikte Reglements aller Lebensbereiche gelten, slumartige von Gangs beherrschte Megastädte wie den „Glop“, aus denen die „Multis“ Tagelöhner beschäftigen, und freie Städte wie „Tikva“, in der ein Großteil der Handlung stattfindet. Weite Teile der ehemaligen Anbaugebiete für die Ernährung der Weltbevölkerung sind überschwemmt oder zu Wüste geworden, die wenige landwirtschaftliche Nutzfläche ist daher von der Besiedelung ausgeschlossen. Auf oder in der Erde gewachsene Nahrung ist ein Luxusprodukt, die Masse der durch Hungersnöte und Unfruchtbarkeit ohnehin reduzierten Bevölkerung lebt von „Bottichnahrung“ aus Algen, in unterschiedlicher Gestalt aber immer in derselben Konsistenz.

In der freien Natur ist kein Überleben möglich, die Kuppeldome der Städte kann man nur mit einer Schutzhülle oder in gesicherten Fahrzeugen ungefährdet verlassen. Verbindungen bestehen durch Untergrundbahnen. Organplünderer, die Jagd auf Menschen machen um deren Organe verkaufen zu können, sind eine weitere Gefahr. Die Masse der Menschen in den Slums wird mit elektronischer Unterhaltung und Drogen abgespeist. Bildung gibt es nur für die Oberschicht. Verbunden sind die Städte über das „Netz“, das der Kommunikation und Information dient. In der freien Stadt Tikva lernen im Gegensatz zu den Multi-Enklaven alle Bürger den Umgang mit dem Netz, das auch zum Arbeiten und Lernen genutzt wird. Da sich Personen in das Netz projizieren, können sie dort auch angegriffen, verletzt und getötet werden.

Erzählt wird die Geschichte wechselseitig aus der Sicht von Shira und ihrer Großmutter Malkah. Shira, in Tikva aufgewachsen, hatte ein Angebot des Multis Yakamura-Stichen (Y-S) angenommen, dort geheiratet und den Sohn Ari bekommen. Im Zuge ihrer Trennung von ihrem Mann verliert sie mit der Scheidung das Sorgerecht für ihren Sohn, der sich zudem versetzen lässt. Sie verlässt die Konzern-Enklave und kehrt nach Hause zurück. In Tikva forscht Avram seit Jahrzehnten im Geheimen an der Schaffung eines illegalen Cyborgs, einem menschlich aussehenden künstlichen Wesen, das sich anders als ein Mensch unbegrenzt im Netz aufhalten und die Basis der Stadt gegen Angriffe aus dem Netz verteidigen kann. Nach mehreren Fehlschlägen gelingt ihm mit Hilfe von Shiras Großmutter Malkah die Schaffung von Yod. Nach der Rückkehr von Shira übernimmt sie die weitere, menschliche Sozialisation von Yod und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihm. Yod zeigt sich in seinem Verhalten sehr menschlich und ist bestrebt, diesen Teil seiner Persönlichkeit in der Interaktion mit Menschen zu erweitern, folgt aber andererseits seiner primären Aufgabe, Tikva zu beschützen, als er Malkah gegen einen Angriff aus dem Netz verteidigt und die Angreifer dort verfolgt und ausschaltet. Sie finden heraus, das Y-S hinter dem Angriff steckt.

Nach Tikva ist auch Shiras Jugendliebe Gadi, Avrams Sohn zurückgekehrt, der sie in der Vergangenheit tief verletzt hatte. Erst Yod ist in der Lage, mit seiner Zuneigung die Verletzung zu heilen. Nachdem Y-S Shira ein Treffen angeboten hat, tauchen auch Shiras Mutter Riva sowie ihre Partnerin Nili auf. Shira kannte ihre Mutter nicht, die als Informationspiratin im Untergrund lebt. Shira erfährt von ihr, dass ihr Vater kein Beziehungspartner, sondern eine Samenspende eines bereits verstorbenen Wissenschaftlers war. Nili ist ein technisch aufgerüsteter Mensch und Yod in vielem ähnlich. Sie stammt aus dem Gebiet, das als „Schwarze Zone“ bekannt ist, dem seit dem „Vierzehntagekrieg“ und einem terroristische Atombombenanschlag verseuchten Nahen Osten. Nili gehört einer Gemeinschaft an, in der israelische und palästinensische Frauen zusammenleben und sich durch Klontechnik fortpflanzen.

Während wir bei Yod von einem Androiden sprechen können, einem vollständig künstlich erschaffenen Wesen, handelt es sich bei Nili um einen Cyborg, einem weiblichen Menschen, der technisch aufgerüstet wurde. Interessant an Yod wie Nili sind auch die uneindeutigen Geschlechterrollen beider, die die Grenzen zwischen Mann und Frau verschwimmen lassen. So zeigt Yod, männlich und zur Verteidigung geschaffen, aufgrund der Programmierung bzw. Beziehung zu zwei Frauen auch Eigenschaften wie Sensibilität und Geduld, die beide als weibliche Eigenschaften gelten. Nili wirkt im Gegensatz dazu und aufgrund ihrer Lebensumstände sehr männlich; sie ist eine Einzelgängerin, wortkarg, zielgerichtet und zeigt wenig Emotionen.

Y-S versucht Shira bei dem vereinbarten Treffen zu überwältigen, wird jedoch von Yod, Riva und Nili erfolgreich beschützt. Inzwischen wird deutlich, dass es Y-S auf die Forschungsergebnisse von Avram abgesehen hat, und auf deren Ergebnis: Yod. Gadi, der erfolgreich in der Produktion elektronischer Unterhaltung und dafür sehr berühmt ist, unternimmt mit Nili, die mit ihm eine Affäre begonnen hat, sowie Shira und Yod eine Reise in den „Glop“. Nili sucht hier nach Bündnispartnern. Im „Glop“ zeigt sich die scheinbar festgefügte Welt der Multis in unerwarteter Bewegung. Während eines kurzen Abstechers holen Shira und Yod Shiras Sohn Ari aus einer Y-S-Enklave heraus und bringen ihn mit zurück nach Tikva. Yod hofft, zur Schaffung einer Familie beigetragen zu haben, der er angehört. Dann überschlagen sich die Ereignisse, als bekannt wird, dass Yod kein Mensch ist und Y-S der freien Stadt Tikva ein Ultimatum stellt. – Wie die Geschichte ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten.

In den Roman eingeflochten ist die Geschichte des Golems, den Rabbi Löw im Prag des 16. Jahrhunderts zum Schutz des Ghettos mit Hilfe kabbalistischer Magie aus Lehm schuf. Die Geschichte erzählt Malkah Yod Kapitelweise mit dem Fortgang der Haupthandlung und spiegelt damit seine Existenz in der Gegenwart des Romans. Da es sich bei Tikva um eine jüdische Siedlung handelt, lässt sich auch von Yod als Golem sprechen. Der Roman gewann 1993 den Arthur C. Clarke Award, einen Science-Fiction-Literaturpreis.

Die Autorin dieses Werkes, Marge Piercy, wurde am 31. März 1936 in Detroit/Michigan während der Großen Depression geboren. Sie wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Ihr Großvater mütterlicherseits war ein Gewerkschafter, der aufgrund dessen ermordet worden war. Ihre Großmutter mütterlicherseits war die Tochter eines Rabbis. Sowohl ihre Großmutter wie ihre Mutter waren große Geschichtenerzählerinnen. Bereits in jungen Jahren lernte sie die Trennung zwischen Schwarzen und Juden auf der einen Seite und Weißen auf der anderen Seite kennen. Die Welt der Bücher entdeckte sie für sich, als sie aufgrund von Krankheiten nichts weiter tun konnte außer Lesen. Nach ihrem Abschluss der High School konnte sie als erste in ihrer Familie aufgrund eines Stipendiums an der University of Michigan studieren. Sie machte 1957 ihren BA und ein Jahr später an der Northwestern University ihren MA.

Piercy ist zum dritten Mal verheiratet. Ihre in jungen Jahren geschlossene erste Ehe mit einem französischen jüdischen Physiker ging aufgrund unterschiedlicher Geschlechterrollen-Erwartungen 1959 in die Brüche. Auch ihre zweite, 1962 geschlossene Ehe, scheiterte. In dritter Ehe ist sie mit Ira Wood verheiratet, mit dem sie seit den 1970ern in Wellfleet/Michigan lebt. Nach dem Scheitern der ersten Ehe kehrte sie aus Frankreich zurück, lebte in Chicago, wo sie sich mit verschiedenen Teilzeitjobs über Wasser hielt und in der Bürgerrechtsbewegung engagierte. Diese Zeit betrachtet sie als die härteste ihres Lebens, sie war arm, ihre Ehe ein Fehlschlag und als Schriftstellerin unsichtbar. Gleichwohl entwickelte sie klare Vorstellungen, worüber sie schreiben wollte. Ihre zweite Ehe 1962 war eine offene Beziehung und führte sie quer durch die USA. Neben der Arbeit schrieb sie und engagierte sich politisch unter anderem gegen den Vietnam-Krieg und in der Frauenbewegung. 1968 brachte ihr erste literarische Erfolge, als sowohl ihr erster Gedichtband „Breaking Camp“ veröffentlicht wie auch ihr erster Roman angenommen wurde.

1971 zogen sie nach Cape Cod. Piercy kannte bis dahin nur das Leben in der Großstadt, konnte sich dort jedoch nach den Jahren, die sie zuletzt in New York verbracht hatten, erholen, neue Kraft gewinnen und Wurzeln schlagen, während sich die Ehepartner zunehmend voneinander entfremdeten. Ihren dritten Ehemann, Ira Wood, kannte sie bereits sechs Jahre, bevor sie 1982 heirateten. In dieser Ehe fühlt sie die Unterstützung, die sie benötigt. Piercy gilt heute als einflussreichste feministische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Sie hat zahlreiche Gedichtbände, Romane, ein Theaterstück, eine Essaysammlung, ein Sachbuch und ihre Autobiografie veröffentlicht, darunter mehrere Bestseller und inzwischen als feministische Klassiker bezeichnete Werke. Der Hintergrund ihrer Werke wechselt, sie spielen in der Zukunft, der Vergangenheit oder der Gegenwart. Ein weiterer bemerkenswerter und auf Deutsch vorliegender Roman „Woman on the Edge of Time“ (Die Frau am Abgrund der Zeit, 1986) aus dem Jahr 1976 stellt im Rahmen einer Zeitreise-Story gleichzeitig eine radikale Kritik an der Psychiatrie der USA wie eine klassische Utopie einer auf genossenschaftlichen Gemeineigentum und geschlechter-egalitären Gesellschaft dar. Marge Piercy engagiert sich für Bürgerrechte, Feminismus und in der Antikriegs-, Klima- und Umweltschutzbewegung.

Kommunistischer Widerstand in Nazideutschland

Neuauflage von Allan Mersons „Kommunistischer Widerstand in Nazideutschland“.

Es ist zugleich erstaunlich wie bezeichnend, dass es nur eine umfassende Darstellung über den Kommunistischen Widerstand in Nazi-Deutschland gibt, und diese nicht von einem deutschen, sondern von einem britischen Historiker stammt. Angesichts des aus dem Dritten Reich in die junge Bundesrepublik „hinübergeretteten“ Antikommunismus eigentlich kein Wunder, denn, schon wer sich nur objektiv mit Kommunist:innen beschäftigte, galt oft schon als solcher. Franz Josef Degenhardt hat das – in einem anderen Zusammenhang zwar – in einem seiner Lieder sehr schön auf den Begriff gebracht: „Also sie berufen sich hier pausenlos auf’s Grundgesetz / Sagen sie mal / Sind sie eigentlich Kommunist?“ So war es der britische Historiker Allan Merson, der 1985 „Communist Resistance in Nazi Germany“ veröffentlichte. Die deutsche Übersetzung folgte 14 Jahre später, 1999 im Pahl-Rugenstein-Verlag. 2020 hat der Neue Impulse Verlag das inzwischen vergriffene Werk erneut zugänglich gemacht. Dass beides DKP-nahe Verlage sind, zeigt einmal mehr das herrschende Vorurteil. Hier nun die Würdigung von einem Leser, der weder Kommunist noch Antikommunist ist.

Merson gliedert seine Darstellung in vier große Kapitel. Zunächst stellt er den „Übergang in die Illegalität 1933“ dar, um sich dann der „Strategie der revolutionären Massenaktionen 1933-1935“ zu widmen. Dabei spart er nicht, neben der sachlichen Darstellung der Fakten, mit seiner Kritik an der ultralinken Politik der KPD gegenüber der SPD, die als „Sozialfaschisten“ diffamiert wurden sowie ihrer Fehleinschätzung im Jahre 1933, die Hitler-Regierung sei nicht von langer Dauer und eine revolutionäre Situation, die zu einem Sowjet-Deutschland führe, stünde unmittelbar bevor. Er zeigt auch, wie angreifbar die inzwischen verbotene KPD wurde, solange sie versuchte, ihren Parteiapparat in der Illegalität ohne Veränderung konspirativ beizubehalten. Wurde die KPD zunächst durch eine zentrale Leitung innerhalb Deutschlands aufrechterhalten, geschah dies schließlich weniger verwundbar und dezentral durch Abschnittsleitungen aus den benachbarten Ländern. Die Folgen der Fehleinschätzung der politischen Lage waren verheerend für die Kommunisten, von denen viele im ungleichen Kampf verschlissen, verhaftet, gefoltert und ermordet wurden bzw. in Konzentrationslager wanderten. Zugleich würdigt Merson immer wieder die Einsatzbereitschaft und Loyalität ihrer überzeugten Anhänger, die die Nazis kaum brechen konnte.

„Eine neue Perspektive 1936-1939“ schildert, wie die KPD im Untergrund nicht in der Lage war, ihre Politik zu verändern, sondern die Veränderung von außen durch die Kommunistische Internationale entstand. Bündnis- und Volksfrontpolitik und ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland wurden die neuen Ziele, getragen von der Analyse, das es aktuell keine revolutionäre Situation gäbe. Zur Tragik der Geschichte wurden verpasste Chancen in der Verständigung zwischen SPD und KPD auf der Ebene der im Exil befindlichen Parteiführungen, während der Widerstand vor Ort und in den Konzentrationslagern oftmals weiter war. Schuld daran war der späte Perspektivwechsel der KPD zu einem Zeitpunkt, als die Exil-SPD schon wieder nicht mehr bereit für ein solches Bündnis war. Merson geht auch auf die Wirkung des Nichtangriffspaktes zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion vom August 1939 ein, der zu Verwirrung unter den deutschen Kommunisten geführt habe, aber nicht zu einem Ende ihrer Widerstandstätigkeit, wie die Lageberichte der Gestapo bezeugten.

Das letzte Großkapitel „Der Zweite Weltkrieg“ schildert – im Rückblick gesehen – vergebliche Bemühungen der im Geheimen agierenden Kommunist:innen und verbündeten Widerstandskämpfer:innen, den Faschismus von innen heraus zu besiegen, sowie Bemühungen, Alternativen außerhalb Deutschlands wie mit dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ zu gründen. Am Ende wurde der Faschismus durch die siegreichen Armeen der Alliierten militärisch besiegt.
Merson beschäftigt auch die Frage, warum es in Deutschland anders als in anderen von Nazi-Deutschland besetzten Ländern keine Partisanentätigkeit gab, keinen bewaffneten Aufstand, keine Revolte der Massen. Er führt dies nicht allein auf den unglaublich gesteigeren Terror der Nazis im letzten Kriegswinter 1944/45 zurück und schon gar nicht auf militaristische und obrigkeitsstaatliche Traditionen, sondern auf die Korrumption des deutschen Volkes und eines großen Teils der Arbeiterklasse durch Ideen und Praktiken der Nazis. Die Schaffung rassistischer Hierarchien durch den Einsatz von ausländischen Zwangsarbeiter:innen, die Behandlung insbesondere der sowjetischen Kriegsgefangenen sowie zwölf Jahre massiver antisowjetischer Propaganda führten, so Merson, zu der weit verbreiteten Überzeugung, dass „ein Sieg der antifaschistischen Mächte die totale Zerstörung Deutschlands bedeuten würde, und daß einem nichts blieb, wofür man arbeiten oder worauf man hoffen konnte“ (S. 277/278).

Das Erbe des kommunistischen Widerstands sieht Merson, er schreibt dies 1985, in der DDR aufgehoben, die kein wurzelloses Gebilde sei, das aus der Besetzung der Sowjetunion hervorgegangen sei, sondern seine Wurzeln in der Erfahrung der deutschen Arbeiterklasse habe und vor allem in deren Widerstandsbewegung gegen die Nazityrannei. Allerdings habe das deutsche Volk sich nicht selbst vom Faschismus befreien können, dies haben ausländische Mächte getan. Die deutschen Kommunisten haben ihr Programm unter Bedingungen umsetzen müssen, die andere für sie geschaffen haben und zudem in einem geteilten Deutschland. Merson schließt mit der Erkenntnis der Begrenzung seines Werks durch die Quellenlage: „Die ganze Geschichte des kommunistischen Widerstands wird man nie erfahren. Aber was bekannt ist, reicht aus, um klar herauszustellen, daß es sich nicht um die Geschichte einiger weniger Heldinnen und Helden handelt (…), sondern um einen ungebrochenen, zwölf Jahre währenden Kampf von vielen tausend einfachen, arbeitenden Menschen. Das stellt das moralische Erbe der Partei dar (…).“ (S. 295)

Es ist erfreulich, dass diese einzige, umfassende Darstellung des Widerstandes der KPD in Nazi-Deutschland wieder zugänglich ist. Den Brückenschlag von 1985 zu heute unternimmt ein aktuelles Vorwort von Ralf Jungmann, auch die früheren Vorworte sind enthalten. Zugleich entschuldigt sich der Verlag dafür, das aufgrund fehlender Druckvorlagen ein 1:1-Nachdruck der ersten deutschen Ausgabe von 1999 nicht möglich war und diese Ausgabe nur aufgrund der „in verschiedenen Stadien der redaktionellen Endbearbeitung fertiggestellten Textdateien“ (S. 6) zustande kam, die anhand des gedruckten Buches sorgfältig überprüft worden sind. Auf dieses Buch aufmerksam gemacht hat mich übrigens diese Besprechung in der „antifa“, dem Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur.

Faschismustheorie als Werkzeug für die Gegenwart

Veröffentlichungen zu Faschismustheorien 2020.

Faschismus wurde und wird immer wieder als Kampfbegriff zur Kennzeichnung des politischen Gegners benutzt, ohne das in jedem Fall klar wird, worauf sich die Beurteilung als faschistisch stützt. Zugleich gibt es bis heute keine allgemeingültige Definition, was Faschismus ist. Zwei 2020 erschienene Publikationen beschäftigen sich aus linker Sicht mit dem Thema und zeigen, wie die verschiedenen Theorien und Erscheinungsformen für die Gegenwart als Werkzeug der Erkenntnis nutzbar gemacht werden können.

Mathias Wörsching, Berliner Historiker und Politologe, der auch die Webseite faschismustheorie.de betreibt, gibt mit seinem in der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlags erschienenen Werk „Faschismustheorie“ einen Überblick über die im Laufe der Jahrzehnte entwickelten relevanten Faschismustheorien. Es handelt sich um eine sehr nützliche Darstellung, die unterschiedliche Sichtweisen auf den Faschismus und deren Entstehungshintergrund zeigt. Neben historischen und marxistischen Faschismustheorien referiert er auch die jüngeren angelsächsischen Theorien von Griffin und Paxton. So nutzt er am Schluss Paxtons Phasenmodell, um die Stärken und Schwächen der verschiedenen Theorien einzuschätzen. Paxton sieht Faschismus als sozialen Prozess mit den einzelnen Phasen Initiation, Aufschwung, Machtübernahme, Machtausübung, Radikalisierung oder Entropie (Rückbildung). Nach seiner Auffassung ist die politische Gefahr des Faschismus keineswegs überwunden, auf einer ersten Stufe existiere er auch heute in allen größeren Demokratien.

Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellten Alexander Häusler und Michael Fehrenschild, beides Mitarbeiter von FORENA, dem Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf, eine Studie zur Bedeutung des Faschismusbegriffs, die in der Reihe Manuskripte unter dem Titel „Faschismus in Geschichte und Gegenwart“ und mit dem Untertitel „ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs“ erschienen ist. Neben einer inhaltsreichen Arbeitsdefinition thematisieren sie insbesondere die länderspezifischen Entwicklungen in Italien, Deutschland, Österreich und Ungarn sowie die Fragen der Abgrenzungen zwischen einem allgemeinen (generischen) Faschismusbegriff und dem Nationalsozialismus bzw. der Rechtsextremismusforschung. Besonders wertvoll wird die Studie in meinen Augen durch die im Anhang abgedruckten Interviews mit Faschismus-Experten, die beinahe die Hälfte des Buchumfangs ausmachen und zu denen auch die Redaktionen der Zeitungen „der rechte rand“ und „Lotta“ gehören.

Aufmerksam wurde ich auf beide Veröffentlichungen durch einen Artikel in der „Lotta“ #80 vom Herbst 2020. Dort findet sich unter der Überschrift „Was ist Faschismus?“ ein Interview mit Mathias Wörsching und Alexander Häusler. Weiterhin empfehlenswert ist m.E. auch die 2012 bei PapyRossa erschienene Darstellung „Faschismus“ von Guido Speckmann und Gerd Wiegel, die zu einer engen Auslegung des Faschismusbegriffs rät und vor einer inflationären Verwendung des Begriffs warnt, einer Position, der ich nur zustimmen kann.

Literatur
Häusler, Alexander/Fehrenschild, Michael: Faschismus in Geschichte und Gegenwart. Ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs = Rosa-Luxemburg-Stiftung. Manuskripte 26, Berlin 2020 (auch als Online-Publikation)
Speckmann, Guido/Wiegel, Gerd: Faschismus, Köln 2012
Wörsching, Mathias: Faschismustheorien. Überblick und Einführung = theorie.org, Stuttgart 2020
„Was ist Faschismus?“ Ein Gespräch mit Mathias Wörsching und Alexander Häusler. Das Interview führte Pia Gomez, in: Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, #80, Herbst 2020, Seiten 4-6

Wiedergelesen: „Ökotopia“ von Ernest Callenbach

Ausgabe des Rotbuch-Verlags, Berlin, nur noch antiquarisch erhältlich.

Der Roman „Ökotopia“ von Ernest Callenbach aus den 1970er Jahren zeigt ein fiktives Land, dessen Wirtschaft und Gesellschaft sich durch eine nachhaltige Ökonomie, Dezentralisation und eine kooperative Lebenseinstellung auszeichnen. Der Autor hat hier verschiedene Möglichkeiten alternativen Lebens zusammengetragen und schildert Land und Leute aus der Sicht eines ebenso fiktiven US-amerikanischen Journalisten. Callenbachs „Ökotopia“ gehört zu den Büchern, die ich in den 1980ern mit einer großen Begeisterung las und die mich auch heute noch faszinieren.

Als Ort für seine ökologische Utopie hat Callenbach im Roman drei „ehemalige Weststaaten“ der USA mit Washington, Oregon und Nordkalifornien gewählt, die sich 1980 abgespalten und einen eigenen Staat aufgebaut haben. Im Roman besucht der Journalist William Weston als erster offizieller Besucher aus den USA im Jahre 1999 Ökotopia und schildert in seinem Notizbuch und in Artikeln für seinen Auftraggeber Eindrücke und Erlebnisse. In Berichten für seine Zeitung schildert er die Veränderungen in Produktion, Energieversorgung und Ernährung, die zu einem lebenswerten und gesunden Leben führten. Westons Vermutung, es handele sich um ein sozialistisches Wirtschaftssystem stellt sich als Irrtum heraus, trotz staatlicher Regelungen gilt bei einer 20 Stunden-Woche und einer deutlich erweiterterten Form der Mitbestimmung die private Unternehmerinitiative. Das Staatsoberhaupt ist eine Frau, Vera Allwen, US-typisch gibt es zwei demokratische Parteien: die regierende Survivalist Party und die oppositionelle Progressive Party.

Ökotopianer sehen den Menschen als soziales und biologisches Wesen an. Zum Überleben der Gattung halten sie sowohl den soziale Zusammenhalt wie eine lebensfähige Umwelt für notwendig. Eine hohe Bedeutung hat daher die Nutzung von Naturmaterialien wie Holz, aber auch ein in Ökotopia entwickelter Kunststoff, der auf natürliche Weise recyclebar ist. Eine große Rolle spielen auch Mülltrennung sowie Müllvermeidung, indem Geräte einfach reparierbar sein müssen. Autos spielen im Leben der Ökotopianer keine Rolle mehr, es gibt gemütlich ausgestattete Magnetzüge und öffentlich bereitgestellte Fahrräder, viele Wege werden zu Fuß zurückgelegt. Die Innenstadt von San Francisco wurde zu einer lebenswerten Umwelt umgestaltet, Bürohäuser zu Wohnungen und in Ladengeschäfte umgebaut. Videokonferenzen ersetzen im Geschäftsleben Geschäftsreisen.

Anstelle der klassischen Kleinfamilie wohnen viele Ökotopianer in Wohngemeinschaften zusammen. Auch Weston macht diese Erfahrung und zieht im Verlauf der Handlung vom Hotel in eine Wohngemeinschaft von Journalisten. In persönlichen Begegnungen stellte Weston wiederholt fest, wie emotional die Ökotopianer reagieren. Andererseits scheitern seine Versuche, mit einer ökotopianischen Frau eine seiner oberflächlichen Reiseaffären zu beginnen, ohne das er zunächst einen Grund dafür entdecken kann. Ökotopia hat ein hohes Maß an beruflicher und gesellschaftlicher Gleichberechtigung von Männern und Frauen erreicht. In Bezug auf die Frage, mit wem sie eine Beziehung eingehen und Kinder bekommen, haben Frauen eine dominante Position. Andererseits gestalten sich das Beziehungsleben wie die Erziehung der Kinder durch das Zusammenleben in Wohngemeinschaften einfacher als in der klassischen Kleinfamilie. Zu den problematischen Teilen des Romans gehören die „Kriegsspiele“, in denen junge Männer Konkurrenz und Aggression ausleben können, die als anthropologische Konstante gelten.

Wer in Ökotopia Bauholz verwenden möchte, muss zuvor in einem Waldcamp mitgearbeitet haben. Beim Besuch eines dieser Waldcamps lernt Weston mit Marissa Brightcloud eine beeindruckende Frau kennen und lieben. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch weil er das Land inzwischen zu schätzen gelernt hat und sich schließlich eine Rückkehr nach New York nicht mehr vorstellen kann, bleibt er am Ende des Romans in Ökotopia. Ernest Callenbach schildert noch viele weitere Details des ökotopianischen Lebens und seiner Gesellschaft, darunter Schule, Kultur und Sport, doch alles hier aufzuzählen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Die deutsche Ausgabe des Romans erschien 1978 im Berliner Rotbuch-Verlag und erlebte mehrere Auflagen zuletzt als Rotbuch Taschenbuch im Jahre 1990. 1983 folgte noch „Ein Weg nach Ökotopia“ im Ökotopia-Verlag, Berlin, der „Die Entstehungsgeschichte einer anderen Zukunft“ schilderte. Beide Romane sind nur noch antiquarisch erhältlich. Der Verfasser dieser ökologischen Utopie, Ernest Callenbach, wurde am 3. April 1929 in Williamsport, Pennsylvania geboren und starb am 16. April 2012 in Berkeley, Kalifornien. Er war Schriftsteller, Journalist und Universitätslehrer, hat an der Universität von Chicago und der Pariser Sorbonne studiert. An der Universität von Kalifornien in Berkeley lehrte er Filmgeschichte und -theorie und war bis 1991 Herausgeber der Zeitschrift „Film Quarterly“. Ernest Callenbach gilt neben Ursula K. Le Guin und Marge Piercy als einer der aktuellen Gesellschaftsutopisten der Gegenwart und wird mitunter zusammen mit Wells, Huxley und Orwell genannt.

Bibliografie
Ecotopia, 1975 (Ökotopia, 1978)

Ecotopia Emerging, 1981 (Ein Weg nach Ökotopia, 1983)

Mörderisches Finale auch in Gelsenkirchen

Neuausgabe 2020 von Ulli Sanders „Mörderisches Finale“.

Zufällig zur aktuellen Kampagne passend, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus zum Feiertag zu erklären, erschien kürzlich die Neuauflage von „Mörderisches Finale“ von Ulrich Sander. Das Buch, dessen Umfang gegenüber der ersten Auflage von 2008 um 90 Seiten gewachsen ist, schildert auf nunmehr 282 Seiten Verbrechen der Nazis gegen Kriegsende im Jahre 1945 und zeigt einmal mehr die ganze Unmenschlichkeit des Naziregimes. Die Verbrechen in der Endphase des Krieges waren sowohl örtliche Amokläufe wie Teil der Nachkriegsplanung der Nazis, unliebsame Zeugen ihrer Verbrechen und Anhänger eines demokratischen Neuaufbaus zu beseitigen.

Als die erste Auflage 2008 erschien, handelte es sich um das erste Buch zur Geschichte der Kriegsendphasenverbrechen, zusammengetragen als journalistische Arbeit auf der Basis von zahlreichen Berichten. Inzwischen hat sich auch die Geschichtswissenschaft dem Thema zugewandt. Und trotz der lange verstrichenen Zeit gab es in den vergangenen Jahren noch immer Neu- und Wiederentdeckungen oft vergessener und verdrängter Verbrechen.

In der Neuauflage kommen auch Gelsenkirchener Verbrechen vor. In der alphabetischen Auflistung der Tatorte taucht unsere Stadt mit den beiden in Gelsenkirchen bekannten Erschießungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Stadtgarten (Alt-Gelsenkirchen) und im Westerholter Wald (Gelsenkirchen-Buer) unmittelbar vor Kriegsende sowie weiteren Erschießungen an anderen Orten auf. Vor dem Polizeipräsidium in Gelsenkirchen-Buer erinnert inzwischen eine von der Arbeitsgruppe Stolpersteine in das Pflaster eingelassene Stolperschwelle an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, im Stadtgarten eine Erinnerungsortetafel an das dortige Verbrechen. Die Recherchen von Andreas Jordan (Gelsenzentrum e.V.) zu den Vorfällen in Buer gingen in die Veröffentlichung ein.

Ulrich Sander: Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende 1945, Köln 2020

Was für eine „Märzrevolution 1920“?

Lucas, Erhard: Märzrevolution 1920, Berlin 2019, 2 Bände

Anlässlich des 100. Jahrestages der Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet hat sich der Verlag „Die Buchmacherei“ der Mamut-Aufgabe gestellt, das vergriffene Standardwerk von Erhard Lucas zu den gerne verdrängten und vergessenen Ereignissen wieder aufzulegen. Der Historiker Erhard Lucas hat sich aus einem linken Erkenntnisinteresse heraus insbesondere mit der Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Zeit des Faschismus beschäftigt. „Märzrevolution 1920“ kann als sein Hauptwerk betrachtet werden.

In der Einleitung beschreiben die Herausgeber ihr Interesse an der Neuherausgabe: „Gegen eine demokratisch gewählte Regierung putscht ein Teil der Armee, und der andere Teil verweigert der Regierung die Unterstützung. Diese flieht. In vielen Landesteilen wird der Generalstreik ausgerufen. Im Industriezentrum des Landes werden die Betriebe besetzt, und mehrer Tausend Arbeiter bewaffnen sich, greifen die Putschisten an und besiegen reguläre Truppen im offenen Kampf. Neugebildete Vollzugsräte übernehmen die öffentliche Gewalt und es bildet sich eine ‚Rote Armee‘ mit – nach unterschiedlichen Quellen – 50.000 bis 100.000 Kämpfern, bestehend aus Sozialdemokraten, Unabhängigen, Kommunisten und Syndikalisten. Die Rede ist nicht von Spanien 1936, sondern vom Ruhrgebiet im März 1920.

Nach der Niederschlagung des Rechts-Putsches ging die Reichsregierung zusammen mit den Einheiten, die sie im Stich gelassen hatten, gegen ihre Retter vor. Die Reaktion nahm blutige Rache. Wie ist es zu diesem Aufstand gekommen und was waren die Gründe seines Scheiterns? Wieso war 1920 möglich, was 1933 gegen die Nazis nicht gelang? Erhard Lucas (1937-1993) hat dazu in 3 Bänden ‚Märzrevolution 1920‘ eine Geschichte der Ereignisse vorgelegt.“

Aus den ursprünglich drei in den 1970er Jahren veröffentlichten Bänden machte die Berliner Buchmacherei zwei dicke Bände mit zusammen über 1.200 Seiten. Sie sind mit der ISBN 978-3-9820783-2-8 zum Preis von 40 Euro im örtlichen Buchhandel erhältlich. Man kann natürlich auch eine linke Buchhandlung unterstützen, und die Bände dort bestellen (z.B. hier), falls sie nicht ohnehin vorrätig sind. Gefördert wurde die Veröffentlichung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

1947/48 auf dem Friedhof Horst-Süd von der VVN errichtetes Denkmal für den antifaschistischen Widerstand, zur Erinnerung an die 1920 im Anschluss an den Kapp-Putsch von rechtsradikalen Freikorps ermordeten Mitglieder der „Roten Ruhrarmee“ und ergänzt um Horster Widerstandskämpfer 1933-1945, insbesondere der Franz-Zielasko-Gruppe.

In Gelsenkirchen erinnert ein antifaschistisches Denkmal auf dem Horster Südfriedhof an die historischen Ereignisse und wird vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) – nicht überraschend – als „Kapp-Putsch-Mahnmal“ bezeichnet. Eine jährliche Gedenkveranstaltung an die Märzrevolution führen dort seit Jahren MLPD & Freunde durch. Zum einhundertjährigen Jubiläum ist aus ihren Reihen sicherlich eine besondere Veranstaltung zu erwarten.

„Brennende Ruhr“

Veröffentlichung des RuhrEcho-Verlags, Bochum 2010.

Im nächsten Jahr jähren sich zum hundertsten Mal der Kapp-Putsch gegen die demokratisch gewählte Reichsregierung, der sich anschließende Generalstreik, der die Putschisten zum Aufgeben zwang, die Bewaffnung der Arbeiter im Ruhrgebiet zur „Roten Ruhrarmee“ und die Niederschlagung der „Märzrevolution“ durch Reichswehr und rechtsradikale Freikorps im Auftrag der SPD-geführten Reichsregierung. Der 1927 von Karl Grünberg verfasste „Roman aus der Zeit des Kapp-Putsches“ schildert vor diesem Hintergrund die Erlebnisse und Erfahrungen des sozialdemokratischen Werkstudenten Ernst Sukrow. Die politische Absicht des Romans ist es, zu zeigen, dass die Spaltung der Arbeiterbewegung zu ihrer Niederlage führte. Grünberg schildert die damalige Zeit plastisch und eindrucksvoll und macht so ein Stück Geschichte des Ruhrgebietes lebendig. Der Roman ist zugleich Zeitdokument und literarisches Werk.

Der Autor des Romans, Karl Grünberg, hat die Spaltung der Arbeiterbewegung selbst erlebt. 1891 in Berlin geboren, trat er 1911 der SPD bei, die sich während des Ersten Weltkrieges an der Zustimmung zu den Kriegskrediten entzweite, wechselte 1919 zur USPD und 1920 zur KPD. Er war 1928 Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und gehörte zu den Autoren, deren Bücher die Nazis am 10. Mai 1933 verbrannten. Zeitweise im KZ Sonnenburg inhaftiert, war er von 1943 bis 1945 als Feuerwehrmann in Essen und Berlin dienstverpflichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte und arbeitete er als Journalist und Schriftsteller in der DDR, wo er 1972 starb.

Der Protagonist, Ernst Sukrow, ist ein mittelloser ehemaliger Student der Chemie, der sich nach den Wirren am Ende des ersten Weltkrieges durchschlägt. Im Zug nach Duisburg, wo er im Kohlenbergbau des Ruhrgebietes Arbeit zu finden hofft, begegnet er dem Betriebsrat der Zeche Hasdrubal I, Peter Ruckers, sowie der Fabrikantentochter Gisela Zenk. Die Diskussion während eines Zugstillstandes zeigt zugleich einen ersten Aufriss der tagesaktuellen Probleme, unter anderem Kohlenmangel und geforderte Überstundenschichten der Bergleute, und den dahinterstehenden Interessensgegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Ruckers nimmt sich des jungen Studenten an, steigt mit ihm in Oberhausen aus, um mit der Straßenbahn weiter in das fiktive Swertrup zu fahren. Sukrow kommt zunächst bei der Familie Ruckers unter, neben dem Ehepaar Ruckers gehören noch der Sohn Hannes, die Tochter Mâry und der Kriegsversehrte Ludwig zur Familie. Zwei weitere Kinder sind bereits als Kleinkinder gestorben. Da trotz geforderter Überstundenschichten keine Bergleute eingestellt werden, nimmt Sukrow im Stahlwerk Flaschner eine Arbeit an, lädt dort Schrott ab und siedelt bald in das Junggesellenheim des Stahlwerks über. Hier lernt Sukrow, der mit der SPD sympathisiert und bald auch dort Mitglied wird, den Kommunisten Max Grothe kennen. Später begegnet er noch dem Gewerkschaftssekretär des Bergarbeiterverbandes, Reese, und dem örtliche SPD-Vorsitzenden, Stadtverordneten und Eisenbahnbetriebsrat Oversath. Mit dem „Unabhängigen“ Ruckers (USPD) ist damit die örtliche Arbeiterbewegung aus Gewerkschaften, SPD, USPD und KPD personalisiert.

Die deutschnationale Seite wird durch den technischen Leiter der Gießerei, Dr. Grell, und das bald wieder auftauchende Fräulein Gisela Zenk repräsentiert. Zenk ist Ehrenmeisterin im „Rugard“, einem fiktiven, deutschnationalen Kampfbund. Zunächst hat Sukrow das Glück, von Dr. Grell als Laborant im Stahlwerkslaboratorium eingestellt und damit der unerträglichen Arbeit des Schrottabladens zu entkommen. Hier trifft er unter anderem auf den national gesinnten Laboranten Walter Peikchen, der ebenfalls Mitglied des Rugard-Bundes ist. Unterdessen erlebt Sukrow die brutale Gewalt der berittenen Polizei gegen unbewaffnete, streikende Arbeiter, trifft Mâry Ruckers wieder und zieht in die Pension des Ehepaares Schapulla. Auf einem geselligen Abend der Einwohnerwehr von Herrn Schapulla mitgenommen, lernt er nicht nur die Töchter von Reese und Oversath kennen, sondern auch den Bergassessor Kuhlenkamp, der, wie sich später herausstellte, ebenfalls für den Rugard arbeitet.

Als Sukrow seine erste Mitgliederversammlung der SPD besucht, erfährt er dort, dass in Berlin der Generallandschaftsdirektor Kapp, General Lüttwitz und Hauptmann Papst gegen die Reichsregierung putschen. Doch die Diskussion dort enttäuscht ihn schwer. Am nächsten Tag erfährt er, dass die Reichswehr sich nicht für die bestehende Regierung einsetzt und die Regierung zum Generalstreik aufruft. Die Vertreter der verschiedenen Parteien und Gewerkschaften der Arbeiterbewegung bilden einen Aktionsausschuss und organisieren den Generalstreik in Swertrup. Interessanterweise wurde zeitgleich die bürgerliche Einwohnerwehr alarmiert – jedoch ohne die sozialdemokratischen Mitglieder zu informieren. Doch es gelingt im weiteren Verlauf den Arbeitern den ängstlichen Mitgliedern der Einwohnerwehr, die strategisch wichtige Positionen in der Stadt besetzt halten, die Waffen abzunehmen und sich selbst zu bewaffnen.

Brennende Ruhr, zweite Auflage 1947, DVD 2011, Raubdruck aus den 1970er Jahren.

Die Ereignisse im Roman nehmen ihren geschichtlichen Verlauf mit der Auseinandersetzung zwischen den bewaffneten Arbeiterwehren, die eine „Rote Ruhrarmee“ bilden sowie der Reichswehr, die zwar die Republik nicht gegen die rechten Putschisten schützt, wohl aber gegen bewaffnete Arbeiter vorgeht, und den rechtsradikalen Freikorps. Ernst Sukrow schließt sich den Arbeitern an und erlebt die Kämpfe und die Niederlage mit. Die einrückenden Truppen machen kurzen Prozess, richten Standgerichte ein und nehmen Erschießungen vor, unter den Erschossenen sind auch Oversath und Ruckers.

Der Roman schließt mit einer Wiederbegegnung zwischen Ernst Sukrow und dem tot geglaubte Kommunisten Max Grothe in der alten Rheinstadt Köln. Neben der politischen Einordnung der Ereignisse, die für den enttäuschten Sukrow natürlich anders ausfallen muss, als für den überzeugten Kommunisten Grothe, erfährt Sukrow auch vom Tod Mâry Ruckers.

„Brennende Ruhr“ erschien zuerst 1927 in verschiedenen Zeitungen in Fortsetzung und 1929 als Roman im Greifenverlag, Rudolstadt. Von den Nazis verbrannt folgte die zweite Auflage des Romans erst zwanzig Jahre später in der früheren DDR. In seinem Vorwort beschrieb Grünberg 1947 seine Motivation, statt eines abstrakt-politischen Buches eine fesselnde Erzählung zu schreiben, um so eine größere Breitenwirkung in der Darstellung politischer Probleme zu erreichen.

Der Roman wurde 1967 als aufwendiger Zweiteiler von der DEFA mit den Mitteln des Kinofilms für das DDR-Fernsehen anlässlich des 50. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution verfilmt. Die inzwischen verfügbare DVD-Veröffentlichung aus dem Jahre 2011 enthält neben einem Portrait des Schriftstellers Karl Grünberg auch einen 40minütigen Beitrag mit Lieder und Geschichten der Brecht-Interpretin Vera Oelschlegel, die im Film die Rolle der Gisela Zenk spielt.

Ein weiteres mir vorliegendes Exemplar des Romans stammt aus dem Jahr 1971. Dabei handelt es sich um einen Raubdruck, herausgegeben vom KAB(ML), einer linken Splittergruppe der alten Bundesrepublik der 1970er Jahre. In dem damals hinzugefügten, schreibmaschinengeschriebenen Vorwort wird auf die Streiks der Stahlarbeiter 1969 hingewiesen und der Roman in Beziehung zu den damals tagesaktuellen Ereignissen gesetzt.

Die jüngste Ausgabe erschien 2010 im RuhrEcho Verlag in unserer Nachbarstadt Bochum mit einem Geleitwort von Hella Schermer-Grünberg, der Tochter von Karl Grünberg, einer aktualisierten Zeitleiste sowie einem umfangreichen überarbeiteten Glossar. Der komplette Roman ist auch gewissermaßen sozialisiert im Internet bei „Nemesis – Sozialistisches Archiv für Belletristik“ kostenfrei zu lesen.

In Gelsenkirchen erinnert ein Denkmal auf dem Horster Südfriedhof an die historischen Ereignisse und wird vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) als „Kapp-Putsch-Mahnmal“ bezeichnet. Eine jährliche Gedenkveranstaltung an die Märzrevolution führen dort seit Jahren MLPD & Freunde durch. In diesem Jahr findet die Gedenkfeier am Samstag, 30. März 2019 von 13.30 bis 14.30 Uhr statt. Treffpunkt ist der Eingang zum Friedhof, Am Schleusengraben 11 um 13.15 Uhr.

1947/48 auf dem Friedhof Horst-Süd von der VVN errichtetes Denkmal für den antifaschistischen Widerstand, zur Erinnerung an die 1920 im Anschluss an den Kapp-Putsch von rechtsradikalen Freikorps ermordeten Mitglieder der „Roten Ruhrarmee“ und ergänzt um Horster Widerstandskämpfer 1933-1945, insbesondere der Franz-Zielasko-Gruppe.

„Verbrechen der Wirtschaft“ im „Roten Freitag“

Buchveröffentlichung des RuhrEcho-Verlags, Bochum.

Kenntnisreich und anschaulich stellte Günter Gleising (VVN-BdA Bochum) heute im „Roten Freitag“ der Gelsenkirchener Linkspartei seine Buchveröffentlichung vor. Buch und Vortrag zeigen die Interessen der Schwerindustriellen und Ruhrbarone an der Errichtung der Nazi-Diktatur, der Ausschaltung der Demokratie und der Rüstungspolitik. Im Anschluss führten die Besucher noch eine lebhafte Diskussion über die Inhalte des Vortrags und ihre Übertragbarkeit auf die Gegenwart.

Ausgehend von der Fragestellung, wie es der NSDAP gelingen konnte, innerhalb weniger Jahre von einer Splittergruppe zur einflussreichsten Kraft Deutschlands zu werden, zeigte Günter Gleising die Unterstützung, die Hitler und seine Partei durch führende Industrielle genoss. Begünstigt wurde die Machtstellung der Wirtschaft durch eine beispiellose Konzentration der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die Krupp, Thyssen, Flick und anderen einen außerordentlichen Einfluss gab. Günter Gleising berichtete, dass er seit über 20 Jahre an diesem Thema arbeitet und unter anderem auf Quellen zurückgreift, die kurz nach 1945 von den Alliierten zusammengestellt wurden. Beispiele aus Gelsenkirchen rundeten den Vortrag ab.

In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion ging es um viele Einzelfragen, aber auch um die Bedeutung für die Gegenwart verbunden mit der Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung der NSDAP und der Entwicklung der AfD. Natürlich war die Zeit wie immer zu knapp für eine ausführliche Diskussion, eine Fortsetzung würde sich sicher lohnen.

Der „Rote Freitag“ ist eine Veranstaltungsreihe im Werner-Goldschmidt-Salon, dem nach dem Gelsenkirchener Antifaschisten benannte Veranstaltungsort der Die Linke. „Verbrechen der Wirtschaft“ war eine Kooperationsveranstaltung der Die Linke mit der Gelsenkirchener VVN-BdA.

Werner-Goldschmidt-Salon – Parteibüro von Die Linke und Veranstaltungsort, benannt nach dem Gelsenkirchener und jüdischen Widerstandskämpfer Werner Goldschmidt.

„Polens Rolle rückwärts“ – Vorbild für die AfD?

Wer sich in der Bundesrepublik mit der Entwicklung der sogenannten „Alternative für Deutschland“ von einer europaskeptischen, wirtschaftsliberalen und nationalkonservativen Partei hin zu einer für rechtextreme und faschistische Positionen offenen Partei beschäftigt, schaut auch oft auf die anderen Länder der Europäischen Union mit ähnlichen aber durchaus unterschiedlichen rechtspopulistischen, rechtsextremen oder faschistischen Parteien. Krzysztof Pilawski, polnischer Publizist und Holger Politt, Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sezieren in ihrem Buch „Polens Rolle rückwärts“ die Situation in unserem östlichen Nachbarland.

In der Betrachtung der Ursachen für den Erfolg der national-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2015 zeigen sich interessante Ähnlichkeiten zur bundesdeutschen Situation wie auch deutliche Unterschiede. Zu den interessanten Ähnlichkeiten gehört eine sozialdemokratische Partei, die sich mit einer neoliberalen Politik von ihren Wählern entfremdet hat und bei den Wahlen abstürzte. Zu den Unterschieden gehört die Stellung der katholischen Kirche, die in Polen einen übergroßen Einfluss besitzt.

Pilawski schildert im Teil „Anatomie des politischen Erfolgs“ die politischen Auseinandersetzungen und skizziert die jüngere Entwicklung Polens, die Transformation der alten Volksrepublik Polen in das heutige EU-Mitglied und die Auswirkungen einer neoliberalen Politik, die alle sozialen Sicherheiten vernichtet und eine gespaltene Gesellschaft produziert hat. Im Ergebnis führte diese Politik und die Vernachlässigung der sozialen Frage durch die Linken zum Erfolg der PiS, die durch Antikommunismus, eine nationalististische Geschichtspolitik und der Demontage demokratischer Grundrechte und Institutionen ihren Erfolg zu verstetigen sucht. Im Zentrum der Geschichtspolitik der PiS steht die Glorifizierung aller polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Geschichte und Gegenwart.

Dieses Buch sei allen empfohlen, die sich für die politische Entwicklung Polens oder auch Deutschlands interessieren, bietet es doch auch im Hinblick auf letzteres einen fremden Blick auf eine leider erfolgreiche sozial- und geschichtspolitische Strategie einer rechten Partei.

Wirtschaftsführer und Kriegsgewinnler

Buchveröffentlichung des RuhrEcho-Verlags, Bochum.

„Verbrechen der Wirtschaft“ von Günter Gleising zeigt Anteil und Interesse der Ruhrbarone und von führenden Industriellen Deutschlands an der Errichtung der Nazi-Herrschaft, an der Aufrüstungs- und Kriegspolitik und der Ausplünderung der eroberten Gebiete. Das Kriegsende 1945 bedeutete für ihre Geschäfte nur eine kurze Unterbrechung, die bald wieder florierten.

Günter Gleising, Mitglied der VVN-BdA Bochum, stellt deutlich die Interessen der wirtschaftlichen Elite der Weimarer Republik dar, die gegen Republik, Betriebsräte und Gewerkschaften und für die Wiederaufrüstung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg standen. Ausgehend von der Fragestellung, wie es der NSDAP gelingen konnte, innerhalb weniger Jahre von einer Splittergruppe zur einflussreichsten Kraft Deutschlands zu werden und wie es Nazi-Deutschland innerhalb von sechs Jahren gelingen konnte, halb Europa mit Krieg zu überziehen, zeigt er die Unterstützung, die Hitler und seine Partei durch führende Industrielle genoss.

Begünstigt wurde die Machtstellung der Wirtschaft durch eine beispiellose Konzentration der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die Krupp, Thyssen, Flick und anderen einen außerordentlichen Einfluss gab, während gleichzeitig die katastrophalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die kleinen Leute abgewälzt wurde. Das Interesse der Wirtschaftsführer an der Beseitigung aller demokratischen und humanistischen Hemmnisse, die ihrem Gewinnstreben entgegenstanden, traf sich mit Hitlers politischem Programm und Politik.

Gleising belegt anhand zahlreicher Dokumente, wie Hitler und die NSDAP ab 1925 ihre Macht ausbauen und dabei durch führende Industrielle unterstützt wurden, bis ihm am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg die Kanzlerschaft angetragen wurde. Mit der Machtübertragung an die Nazis begann für die Konzerne wieder das große Geschäft: Rüstungsaufträge, Arisierungen, Ausplünderung eroberter Gebiete und Sklavenarbeit bildeten das Geschäftsmodell, dass Gleising anhand zahlreicher Beispiele aus Bochum und den Nachbarstädten zeigt.

Bei allem Lob für die Veröffentlichung darf eine Kritik an der faktenreichen Darstellung nicht fehlen: gelegentlich hat man als geneigter Leser den Eindruck, von der Vielzahl der Fakten schier erschlagen zu werden ohne die Gelegenheit zu bekommen, beim Lesen innezuhalten. Trotzdem gibt es eine klare Empfehlung für dieses Buch, das sich nahtlos in die Spurensuche und Kennzeichnung der Tatorte der „Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945“ der VVN-BdA NRW einfügt und weit darüber hinausweist.

Lesenswert ist „Verbrechen der Wirtschaft“ auch nicht nur als historische Darstellung. In seinem Vorwort erinnert Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA daran, dass die Ministerin Andrea Nahles 2016 aus dem Armutsbericht der Bundesregierung einen Satz streichen ließ, der den Einfluss der Reichen auf die Politik zeigt. Trotzdem – eine Binsenweisheit – besteht dieser Einfluss 1933 wie heute. Günter Gleisings „Verbrechen der Wirtschaft“ zeigt am historischen Beispiel, was zuviel Macht auf der Kapitalseite anrichtet. So ist aus dieser Geschichte zu lernen, dass und warum sie sich nicht wiederholen darf.

Gleising, Günter: Verbrechen der Wirtschaft. Der Anteil der Wirtschaft an der Errichtung der Nazidiktatur, der Aufrüstungs- und Kriegspolitik im Ruhrgebiet 1925-1945, RuhrEcho Verlag, Bochum, 2017, 267 Seiten, 18 Euro