Archiv der Kategorie: Erinnerungskultur

Beeindruckender Zeitzeuge in Gelsenkirchen

Am Volkstrauertag war mit dem hochbetagten Horst Selbiger ein beeindruckender Zeitzeuge in Gelsenkirchen und erzählte aus seinem Leben. Eingeladen hatten zu der gut besuchten Veranstaltung das BonniMax in der Lukaskirche in Gelsenkirchen-Hassel, die Schalker Fan-Initiative und die Falken. Der 1928 in Berlin geborene Horst Selbiger, Sohn eines Zahnarztes, erzählte zunächst von glücklichen Tagen seiner Vorschulzeit. Auch darf der jüdische Vater nach der Machtübertragung an die Nazis 1933 noch weiter als Zahnarzt arbeiten, da Anfangs eine Ausnahme für Frontkämpfer des (Ersten) Weltkrieges gemacht wurden. Doch bereits 1934 ist die glückliche Kindheit mit der Einschulung in Grundschule als einziger Jude vorbei. Persönliche Stärkung brachte ihm der jüdische Sportverein Makkabi, wo er Boxen lernte.

Besser wird es 1938 mit dem Wechsel auf die Jüdische Mittelschule, wo er mit anderen jüdischen Kindern unterrichtet wird. Die Lehrenden, die nur noch jüdische Kinder unterrichten dürfen, schätzen sie. Hier gibt es keine Trennung der Geschlechter, Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet. Ausführlich und mit viel Gefühl schildert der 94jährige seine Jugendliebe, ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen, die wunderbar „mit den Wimpern klimpern“ konnte. Noch können die jungen Leute die gemeinsame Zeit genießen.

Weiter berichtet Horst Selbiger von den Vorbereitungen zum nicht aufgeführten Theaterstück über die biblische Gestalt Esther, deren Rolle seine große Liebe übernimmt und die in seiner Erinnerung mit der kämpferischen, biblischen Esther verschmilzt. Mit der Schließung der jüdischen Schulen 1942 werden die inzwischen 14 Jahre alten Schülerinnen und Schüler zu Zwangsarbeitenden. Während seine Freundin Leichen waschen und Gräber für die gestiegene Anzahl jüdischer Selbstmörder ausheben muss, muss Horst Selbiger Metallteile in eine stinkende Brühe tauchen. Im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion werden die letzten noch in Berlin lebenden Juden 1943 zur Deportation zusammengetrieben. Horst Selbiger wird vom Arbeitsplatz in Hemd und Hose im bitterkalten Februar auf den LKW getrieben. In der ehemaligen Synagoge eingesperrt, können sich die Liebenden unter unsäglichen Bedingungen noch einmal begegnen, bevor die Nazis sie endgültig auseinanderreißen. Erst später erfährt Horst Selbiger, dass sie bereits kurze Zeit später in Auschwitz ermordet wurde. Er selbst überlebt und wird als 17jähriger von den Allierten befreit.

Das Publikum ist erkennbar beeindruckt von dem Erzählten. Nur zögernd kommen Fragen und Anmerkungen, insbesondere von den jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern.

Wer sich – neugierig geworden – weiter mit dem Lebensweg von Horst Selbiger beschäftigt, stößt im Internet (1, 2) wie in seiner Buchveröffentlichung auf viel mehr. Am besten liest man selbst nach, wie er in seinem Buch „Verfemt – verfolgt – verraten“ zum Beispiel über den 9. November 1938 berichtet oder über seine Übersiedlung in die 1949 entstehende Deutsche Demokratische Republik, die er angesichts der Rückkehr der alten Nazis in die Ämter der entstehenden Bundesrepublik als das bessere Deutschland empfindet. Doch auch in der DDR wird er nicht heimisch, fällt als Mitglied der SED 1953 in Ungnade. 1964 nutzt er nach weiteren Enttäuschungen über die Entwicklung in der DDR die Gelegenheit eines journalistischen Auftrages und bleibt in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere die Entführung seines Mentors und guten Freundes Heinz Brandt durch die Staatssicherheit der DDR aus West-Berlin und dessen anschließende Verurteilung zu 13 Jahren Haft wegen „schwerer Spionage in Tateinheit mit staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ erschütterten ihn sehr.

In der Bundesrepublik wird sein Antrag auf Entschädigung für die Nazi-Zeit abgelehnt, da er sich mit seinem Übertritt in die DDR 1949 „gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung“ betätigt habe. Erst ein Gerichtsurteil hilft ihm zur Anerkennung als politisch und rassisch Verfolgter, die Gesundheitsschäden durch Verfolgung und Zwangsarbeit werden jedoch nicht anerkannt. Nach fast 15 Jahren entscheidet das Gericht 1978 gegen einen Entschädigungsanspruch, „da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den bei ihm aufgetretenen Erkrankungen und der nationalsozialistischen Verfolgung nicht wahrscheinlich ist“. Aus gesundheitlichen Gründen konnte Horst Selbiger nach dieser langen Zeit einfach nicht mehr weiterkämpfen.

Selbiger, Horst: Verfemt – verfolgt – verraten. Abriss meines Lebens, Spurbuchverlag, Baunach, Auflage 2018; € 19,80

Bericht in der WAZ hier.

Gedenkstättenfahrt nach Bremen und Esterwegen

Geführte Tour durch den U-Boot-Bunker Valentin, heute Denkort.

Zum inzwischen elften Mal fuhren die DGB-Jugend Mülheim, Essen, Oberhausen und die VVN-BdA Essen gemeinsam zu Orten des Nazi-Terrors. Wie schon viele Male zuvor waren eine Großstadt und ein in der Nähe gelegener Gedenkort das Ziel der Wochenendtour. Von Freitag bis Sonntag, vom 9. bis 11. September 2022 ging es nach Bremen und in die KZ-Gedenkstätte Esterwegen. In Bremen wie in Esterwegen war zu sehen, wie die Nazis in ländlichen Regionen Großprojekte in Gang setzen, die der Unterdrückung und Ausbeutung politischer Gegener und Andersdenkender dienten und von der zugleich die jeweils örtliche Bevölkerung profitierte.

Der Freitag war für die reine Busfahrt nach Bremen vorgesehen, das Programm begann am Samstag in Bremen-Farge mit der Besichtigung des U-Boot-Bunkers Valentin. Durch diesen „Denkort“ führten uns mit Monika Eichmann und Ulrich Stuwe zwei Mitglieder der VVN-BdA Bremen und zeigten uns ein gigantisches Bauwerk mit meterdicken Betonwänden und -decken. Die „technische Meisterleistung“ wurde von der Nazi-Marine mit Arbeitssklaven geschaffen, die unter unmenschlichen Bedingungen tägliche Schwerstarbeit auf der Baustelle leisten mussten.

Überreste der Betonmischanlage für den Bau der meterdicken Betonwände und -decken.

Zivile Zwangsarbeiter aus ganz Europa, sowjetische Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers der Bremer Gestapo, italienische Militärinternierte wurden von Marine-Soldaten bewacht dort eingesetzt. Viele von ihnen überlebten die Folgen der körperlichen Arbeit, der unzureichenden Versorgung und der Lebensbedingungen in den umliegenden Lagern nicht.

Denkort Bunker Valentin mit Teilnehmenden auf dem Rundweg um den U-Boot-Bunker.

Im U-Boot-Bunker sollten geschützt vor Luftangriffen modernste U-Boote im Fließbandverfahren für den Krieg gebaut werden. Doch kein U-Boot verließ je diesen Bunker. Nach einem Luftangriff auf einen nicht fertiggestellten westlichen Teil des Bunkerdachs wurden die Bauarbeiten gestoppt. Nach dem Krieg diente er den Alliierten zu Bombentests, weitere Pläne ihn abzureissen oder unter einer Parklandschaft zu begraben scheiterten. Teile der Gebäude und des Geländes wurden seit den 1960er Jahren von der Bundeswehr genutzt. Erst ihr Abzug 2010 machte den Weg für seit den 1980er Jahren erhobenen Forderungen frei, ihn zu einer Gedenkstätte umzugestalten. 2015 wurde der Denkort Bunker Valentin offiziell eröffnet. (Heute ist der Bunker übrigens nicht nur ein Denkort, sondern auch ein Biotop für Fledermäuse und – auf dem Dach – für Frösche.)

Eine der vielen Tafeln auf dem Rundweg , der um den Bunker herum führt.

Um den Bunker herum führt heute ein Rundweg, der die Geschichte des Ortes erläutert. Neben baulichen Überresten und persönlichen Schicksalen fanden wir auch Tafeln auf denen die Namen der Firmen genannt werden, die am Bau des Bunkers verdient haben. Im Gebäude selbst findet sich ein Informationszentrum einer Ausstellung, Filmmaterial und weiteren Informationen. Ein Medientisch zeigt die geografische Entwicklung. Vor dem Bunker und außerhalb des früheren Bundeswehrgeländes findet sich die 1983 errichtete vier Meter hohe Plastik „Vernichtung durch Arbeit“ von Fritz Stein.

Die Plastik „Vernichtung durch Arbeit“ (1983).

Nach der Mittagspause trafen wir uns auf der anderen Weserseite an der Oberschule am Leibnitzplatz. Von hier aus führten uns John Gerardu und Horst Otto, zwei lokale Aktivisten, zu einigen Denkorten in der Bremer Neustadt und erzählten dabei auch einiges über den Stadtteil. Die Denkorte Neustadt sind lokal verankert und werden auch öffentlich gefördert. Neben den Denkorten im engeren Sinne, die durch eine gemeinsame Gestaltung gekennzeichnet sind, führten sie uns auch zu einem Gedenkstein, der an die Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Minsk erinnert, über den städtischen Friedhof mit einigen steinernen Zeugnissen, zum Stolperstein für Alfred Bostelmann, einem Zeugen Jehova und zur Schule Kantstraße, in der Zwangsarbeiter untergebracht waren. Damit ist die breite dieser Form der Erinnerungsorte schon deutlich geworden.

Während der Führung einer Kleingruppe durch Bremen-Neustadt.

Insgesamt war dieser Tag sehr interessant, durch die vielen nur fußläufig zu erreichenden Orte auch sehr anstrengend gewesen. Da der Abend zur freien Verfügung stand, nutzte ich ihn für einen langen Spaziergang entlang der belebten Weser und fand dort auch ein Plätzchen zum Verweilen. Der folgende Sonntag stand im Zeichen des Besuchs der Gedenkstätte Esterwegen und der Rückfahrt nach Essen. Ähnlich wie beim U-Boot-Bunker Valentin bot erst der Abzug der Bundeswehr die Möglichkeit, am Ort des früheren Konzentrationslagers Esterwegen eine Gedenkstätte einzurichten. Das frühere Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (DIZ), das seit 1985 in Papenburg, dem zentralen Sitz der Verwaltung der Emslandlager bestanden hatte, ist in diese Gedenkstätte mit aufgegangen und besteht nicht mehr.

Einer der Denkorte in Bremen-Neustadt mit der für das Projekt typischen Gestaltung.

Bei den Emslandlagern handelt es sich um insgesamt 15 Lager unter wechselnder Verwaltung in der strukturschwachen Grenzregion zur Niederlande. Drei von ihnen, darunter Esterwegen und Börgermoor waren zeitweilig Konzentrationslager für politische Gegner und Andersdenkende, die von den Nazis hier eingesperrt wurden. Berühmt geworden ist das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“, dass die KZ-Insassen schufen und sich trotz Verbots über das KZ hinaus verbreitete.

Eingang zur Gedenkstätte Esterwegen.

Das KZ Esterwegen wurde wie das KZ Dachau als Musterlager geplant und gebaut. Es wurde im Sommer 1933 durch den preußischen Staat errichtet, die Baracken und alle Einrichtungen natürlich von den KZ-Insassen gebaut. Es wurde bereits 1936 als KZ aufgelöst und die Insassen nach Oranienburg nördlich von Berlin gebracht, wo diese das KZ Sachsenhausen aufbauen mussten. Bemerkenswert ist in Esterwegen im Gegensatz zu den anderen großen Konzentrationslagern die Nähe zwischen dem Häftlingslager und dem Lager der Wachmannschaften. In Esterwegen mussten die Häftlinge die Lagerstraße der Wachmannschaften morgens und abends durchschreiten. In anderen Lagern waren die Bereiche der SS-Wachmannschaften deutlich vom Häftlingslager getrennt. Das Lager wurde ab 1937 als Strafgefangenenlager durch die Justizverwaltung weiter geführt, und 1943/44 für Widerstandskämpfer aus den deutsch besetzten westeuropäischen Ländern.

Blick in den zerstörten Teil des U-Boot Bunkers Valentin.

Wie auch andere KZs wurde nach der Befreiung vom Faschismus Esterwegen als Internierungslager durch die in diesem Fall britische Besatzungsmacht genutzt und danach als Flüchtlingsdurchgangslager. Die Gebäude des Lagers wurde abgetragen und verkauft, das Gelände anschließend von der Bundeswehr genutzt. Nach dem Abzug der Bundeswehr konnte 2009/11 die Gedenkstätte errichtet werden. Da bauliche Überreste fast völlig fehlen, wurden Mauern, Wachtürme und Tore durch Cortenstahlwände sybolisiert, der Stahl soll an die Kälte des Lagers erinnern, die braune Farbe an den Torf der Moore, zu dessen Kultivierung die KZ-Häftlinge eingesetzt wurden. Erst während des Krieges wurden die Insassen der Lager für andere Arbeiten in der Landwirtschaft wie für die Rüstungsproduktion eingesetzt. Bemerkenswert auch die Markierung der Barackenstandorte, sie sind nicht wie in Buchenwald, Dachau oder inzwischen auch in Sachsenhausen durch Schotter markiert, sondern durch Bauminseln, aus denen an diesem 11. September, dem Tag des Offenen Denkmals Audioinstallationen die Erinnerung an das KZ zurückbrachte.

DGB-Jugend MEO erinnert in der Gedenkstätte Esterwegen.

An den ursprünglich außerhalb des Geländes aufgestellten Gedenksteinen, die an Carl von Ossietzky und an alle Häftlinge des Lagers erinnern, legte die DGB-Jugend einen Kranz nieder und Lennart hielt eine angemessene Gedenkrede. Carl von Ossietzky, der als Journalist die Weimarer Republik verteidigte und vor dem aufkommenden Faschismus warnte, wurde von den Nazis in Esterwegen mit der üblichen Grausamkeit behandelt und durch die Lagerbedingungen ermordet. Der Friedensnobelpreisträger ist damit das prominente Beispiel für das Leiden vieler wenig bekannter Menschen. Bereits die Gewerkschaftsjugend der IG Bergbau Essen hat ihm 1963 an einem anderen Ort in Esterwegen mit einem Gedenkstein gedacht. 2021 finden sich in der Ausstellung der Gedenkstätte neben ihm zahlreiche andere völlig unterschiedliche Menschen, deren Leben und Leiden dokumentiert wird.

Leicht bearbeitete Fassung.

Gunter Demnig verlegt auch 2022 weitere Stolpersteine

Ein Blick in den Wagen von Gunter Demnig mit den für die Verlegungen vorbereiteten Stolpersteine. (Archivbild 2016).

Das größte und dezentrale Denkmal der Welt wächst weiter – auch in Gelsenkirchen. Seit 2009 kommt der Kölner Bildhauer und Aktionskünstler Gunter Demnig nun in unsere Stadt, um auch hier weitere Stolpersteine zu verlegen. Jeder einzelne Stolperstein erinnert am letzten, frei gewählten Wohnort an einen von den Nazis verfolgten oder ermordeten Menschen. Nur wenige konnten durch Flucht ihr Leben retten, die meisten wurden unter unsäglichen Bedingungen ermordet.

Zu den bisher 265 in Gelsenkirchen verlegten Stolpersteinen kommen nun 18 weitere hinzu, die ein kleines Mosaikbild der faschistischen Politik zeigen. Neben Demnig, der die Verlegung durchführt, Gästen, Stolperstein-Patinnen und Paten nimmt auch eine Schülerinnen-und-Schüler-Gruppe der Gesamtschule Berger Feld teil. Organisiert von der Arbeitsgruppe Stolpersteine des Vereins Gelsenzentrum, ist die folgende Verlegereihenfolge geplant, zu der die Öffentlichkeit herzlich eingeladen ist. Für Interessierte gilt es, ein Zeitfenster von ± 20 Minuten zu den genannten Uhrzeiten einzuplanen. Es gelten bei den kleinen Verlegezeremonien die jeweils aktuellen Corona-Richtlinien.

Samstag 11. Juni 2022

14.30 Uhr Mühlenstr. 5-9, Norman C. Cowley

15.15 Uhr Emscherstr. 41, Jürgen Sommerfeld

16.00 Uhr Hauptstr. 16, Lore Grüneberg

16.30 Uhr Gildenstr. 7, Ehepaar Ida u. Josef Schlossstein

17.00 Uhr Bahnhofstr. 55-65, Dr. Alfred Alsberg

17.30 Uhr Von-Der-Recke-Str. 11, Ida Reifenberg

17.45 Uhr Husemannstr. 39, Familie Leibisch Grün

Dienstag, 14. Juni 2022

10.00 Uhr Vera Polyakova, Dessauerstr. 72

10.40 Uhr Ehepaar Meyer, Florastr. 166

Veranstaltungsprogramm zum 8. Mai 2022

Werbung für den Tag der Offenen Tür am 8. Mai 2022.

Nachdem das Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung in den beiden vergangenen Jahren jeweils Veranstaltungen zum 8. Mai durchgeführt hatte, um die Forderung der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano und der VVN-BdA, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus zum Feiertag zu erheben und um zu zeigen, wie sich ein solcher Feiertag mit Leben füllen lässt, gibt es in diesem Jahr erstmalig in unserer Stadt ein gemeinsames Programm der städtischen Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie des Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung.

Zwischen dem 8. und dem 18. Mai 2022 finden eine Reihe unterschiedlicher Veranstaltungsformate statt. Beginnend mit dem Tag der Offenen Tür in der Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ in Gelsenkirchen-Erle mit Führungen durch die Ausstellung um 11 und 15 Uhr finden an den darauffolgenden Tagen unter anderem Vorträge, ein Workshop zwei Filmvorführungen und eine Buchpräsentation statt. Veranstalter sind das Institut für Stadtgeschichte, die Volkshochschule bzw. die flora. Die Stadtbibliothek bietet den Schulen Recherchetrainings sowie ein digitales Medienverzeichnis zum Thema 8. Mai an. Die AG „Laufend erinnern“ gedenkt auf dem Friedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Das Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung als Repräsentant der Zivilgesellschaft beteiligt sich mit drei Veranstaltungen: in Gelsenkirchen-Horst steht Stolpersteine putzen auf dem Programm, an der Altstadtkirche wird eine Mahnwache für den Frieden abgehalten und eine Antifaschistische Fahrradtour führt zu den Kriegerdenkmalen in Gelsenkirchen.

Das komplette Programm mit allen Infos und Zeitangaben ist hier zu finden. Voranmeldungen sind nur bei den Veranstaltungen der VHS erforderlich, alle übrigen können ohne Anmeldung – spontan – besucht werden.

Achter Mai arbeitsfrei – Zeit für Antifaschismus!

8. Mai 2020: Eines der vielen selbstgemachten Plakate und ein Blick auf einen Teil der kontaktlosen Menschenkette.

Fast 175.000 Unterschriften hat die VVN-BdA als Initiatorin der Online-Pettion „8. Mai zum Feiertag machen! Was 77 Jahre nach Befreiung vom Faschismus getan werden muss!“ gesammelt, diese gehört schon jetzt zu einer der meist gezeichneten Online-Petition. Inspiriert wurde sie von Esther Bejarano, die als Mitglied des „Mädchenorchester von Auschwitz“ das gleichnamige Vernichtungslager, das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und einen Todesmarsch überlebte. Bis zu ihrem Tod am 10. Juli 2021 war sie Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der BRD e.V. und Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).

In einem Offenen Brief hatte sie im Jahr vor ihrem Tod und einen Tag vor dem Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz, am 26. Januar 2020 „an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen“ ihre Forderung aufgestellt: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes.“

Inzwischen zieht die Kampagne der VVN-BdA immer weitere Kreise. So führte Anfang April die Naturfreundejugend NRW zusammen mit zahlreichen Bündnispartnern, darunter auch der VVN-BdA NRW, den „Esther-Kongreß“ durch, und stärkt mit einer eigenen Kampagne auf NRW bezogen die Forderung, den 8. Mai zum Feiertag zu machen. In unserer Stadt, in Gelsenkirchen, hat in den beiden vergangenen Jahren das Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung um den 8. Mai eigene Veranstaltungen durchgeführt; in diesem Jahr wird erstmals die Stadt Gelsenkirchen auf der Grundlage eines Ratsbeschlusses verschiedene Veranstaltungen um den 8. Mai durchführen, an denen neben den städtischen Kultureinrichtungen und das Institut für Stadtgeschichte auch das Aktionsbündnis beteiligt sein wird. Unsere Forderung bleibt: Achter Mai arbeitsfrei – Zeit für Antifaschismus!

Baustellen der Verfolgung und des Widerstandes in Gelsenkirchen abgeschlossen

Die Erinnerungsortetafel auf dem Margarethe-Zingler-Platz.

Vor nunmehr fünf Jahren, im Jahre 2017 hatte die VVN-BdA Gelsenkirchen die innerstädtischen Baumaßnahmen zum Anlass genommen, eine Anregung nach § 24 der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung an den Rat der Stadt Gelsenkirchen einzureichen, um die vier innerstädtischen Plätze, die an Gegner und Opfer des Faschismus erinnern, als Plätze der öffentlichen Begegnung und der Erinnerung zu bewahren.

Zu den vier Plätzen, die an die Sozialdemokratin Margarethe Zingler, den Kommunisten Fritz Rahkob, den Geistlichen Heinrich König sowie den Juden Leopold Neuwald erinnern ist in der Zwischenzeit ein fünfter Platz hinzugekommen, der an das Sinti-Kind Rosa Böhmer erinnert. Die Neugestaltung der Plätze ist längst abgeschlossen, nur auf dem Margarethe-Zingler-Platz stand noch immer die alte Erinnerungsortetafel.

Aufgrund der Corona-Pandemie war die Aufstellung einer neuen Tafel verschoben worden. Nun, mit der auch hier neu aufgestellten Tafel, ist die Umgestaltung der Plätze abgeschlossen. In Gelsenkirchen wird an zentralen Stellen in der Innenstadt an im Faschismus verfolgte Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen, Christ:innen, Jüd:innen sowie Sinti und Roma erinnert.

8. Mai muss Feiertag werden!

Seit nunmehr zwei Jahren unterstützt das lokale Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung die von Esther Bejarano angestossene Kampagne der VVN-BdA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu erheben. Esther Bejarano, Überlebende von Auschwitz, Ravensbrück und eines Todesmarsches sowie Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, hatte vor ihrem Tod diese Kampagne angestoßen. Für 2022 plant die Stadt Gelsenkirchen aufgrund der aus den Reihen des Aktionsbündnisses eingebrachten Anträge in den Rat der Stadt eigene Veranstaltungen zum 8. Mai. Silvesterfeuerwerk wird es am 8. Mai wohl nicht geben, aber ein erster Schritt ist getan.

Lebensgeschichten hinter Stolpersteinen

Oberhausen, Stolpersteine für Familie Fruchtzweig, Rothebuschstraße 112.

Seit zwei Jahrzehnten beruflich in verschiedenen Städten des Ruhrgebietes unterwegs, bin ich jüngst in Oberhausen auf die Stolpersteine der Familie Fruchtzweig gestoßen. Auch in Oberhausen liegen inzwischen über 200 Stolpersteine des Kölner Aktionskünstler Gunter Demnig, die damit ein Teil des größten dezentralen Denkmals an die Opfer der Nazi-Barbarei sind. Stolpersteine werden in der Regel am letzten frei gewählten Wohnort in den Gehweg eingelassen und erinnern dort namentlich an die meist unter barbarischen Umständen ermordeten Menschen. Dank dem Engagement vieler Stolperstein-Paten konnte in Oberhausen seit 2008 jedes Jahr eine Verlegung stattfinden.

Ein Zeitungsbericht machte mich auf die insgesamt fünf Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Fruchtzweig im Pflaster der Rothebuschstraße 112 aufmerksam. Direkt vor einem Friseursalon ruhen diese fünf kleinen Erinnerungsorte an Jakob, Franziska, Maria, Benno und Gustav Fruchtzweig im Gehweg und erinnern an die Geschichte von fünf Menschen, von denen zwei den Faschismus überlebt haben.

Jakob Fruchtzweig wurde am 14. Januar 1896 in Sosnowice, einem Teil Polens der zur Zeit seiner Geburt zum Russischen Zarenreich gehörte, geboren. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918/20 entstand Polen neu als unabhängiger Staat. Jakob kam 1920 über Magdeburg nach Oberhausen. Er arbeitete hier als Bergmann und heiratete 1921 die 3 Jahre jüngere und gebürtige Osterfelderin Franziska Cwiertnia, obwohl deren Familie gegen die Hochzeit mit dem polnischen Juden war. Sie bekamen zwei Kinder, am 2. Mai 1922 wurde die Tochter Maria und am 29. Oktober 1929 der Sohn Benno geboren. 1925 zog die Familie von der unteren Rothebuschstraße zur Hausnummer 38 (heute Nummer 112). Sein Geschäft für Kurz- und Wollwaren befand sich dort, wo heute der Friseursalon besteht.

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begannen die Nazis zügig ihre Politik umzusetzen. Bereits der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 traf das kleine Geschäft der Familie schwer, im Juli 1933 wurde das Gewerbe abgemeldet und die Familie zog 1934 nach Bottrop in eine vermeintlich sicherere jüdische Umgebung. Jakob arbeitete erneut als Händler, seine Tochter Maria als Putzhilfe.

Am 28. Oktober 1938 wurde die gesamte vierköpfige Familie wie 17.000 andere polnische Juden im gesamten Deutschen Reich in einer Nacht- und Nebelaktion über die Grenze nach Polen abgeschoben. Hintergrund der sogenannten „Polenaktion“ war eine geplante Änderung des polnischen Passgesetzes, mit der Polen die außerhalb Polens lebenden Juden ausbürgern wollte. Der polnische Historiker Jerzy Tomaszewski beschreibt in seinem Buch „Auftakt zur Vernichtung“ (Osnabrück 2002), dass die ganze Aktion unter katastrophalen Bedingungen durchgeführt wurde. Manche wurden mitten in der Nacht von Gestapo, SA oder SS aus ihren Wohnungen gescheucht und im Nachthemd mitgenommen, anderen wurde es erlaubt, ein wenig Handgepäck und Lebensmittel mitzunehmen.

Die Verhafteten wurden auf Polizeiposten oder in Gefängnissen, Turnhallen, Synagogen, Kasernen oder anderen Gebäuden untergebracht und nach Stunden zur Abfahrt der Sonderzüge zum Bahnhof gebracht. An Bargeld durfte aufgrund der Devisenbestimmungen pro Person maximal 10 Reichsmark mitgenommen werden. Die Transporte mit der Reichsbahn trafen auf kleine Grenzübergänge, die dem Ansturm nicht gewachsen waren. Die meisten, etwa 9000, wurden über den Grenzübergang Bentschen/Zbazyn abgeschoben, wo die überforderten polnischen Behörden sie zunächst in Eisenbahnwaggons festgehalten und in ehemaligen Kasernen und Ställen untergebracht haben.

Während viele andere von den polnischen Behörden in Zbazyn festgehalten wurden, konnte Jakobs Familie in seinen Geburtsort ziehen. Bereits ein Jahr später entfesselte Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. In Sosnowice, dem Ort in dem Jakobs Familie geflüchtet war, wurde die jüdische Bevölkerung wie überall im Deutsch besetzten Polen in ein Ghetto gesperrt, in das zudem die jüdische Bevölkerung von kleineren umliegenden Ortschaften deportiert wurde. Die meisten Ghetto-Bewohner wurden in Auschwitz ermordet, ein Aufstand des Ghettos blieb erfolglos.

Jakob wurde 1943 in das Männerlager Klettendorf bei Breslau in Schlesien deportiert, die Kinder an einen uns nicht bekannten Ort gebracht. Wie bei vielen anderen auch verliert sich jede weitere Spur meist in den Kaminen der Vernichtungslager oder den verscharrten Leichenbergen. Wir können davon ausgehen, das sie ermordet worden sind. Franziska konnte als Nichtjüdin im April 1944 nach Oberhausen zurückkehren, später zog sie nach Bottrop. Sie hatte vergeblich versucht, etwas über das Schicksal ihrer Familie herauszufinden und starb 1959 im Osterfelder Marienhospital.

Oberhausen, Friseursalon in der Rothebuschstraße 112 mit den Stolpersteinen für Familie Fruchtzweig.

Auf derselben Adresse wohnte Gustav Fruchtzweig, vermutlich ein Bruder Jakobs, am 2. März 1901 ebenfalls in Sosnowice geboren. Er war Altwaren- und Schrotthändler. Er floh bereits 1933 über die Niederlande und Belgien mit Hilfe einer jüdischen Hilfsorganisation nach Frankreich. Nach der Niederlage und Besetzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland wurde er 1942 in Toulouse verhaftet und 1943 in ein Arbeitslager nach Lille gebracht. 1944 gelang ihm die Flucht und er fand Unterschlupf bei einer französischen Familie auf dem Land. Nach dem Krieg zog er nach Paris. Hier starb er 1978.

Die Verlegung der Stolpersteine war am 26. Februar 2021 erfolgt. Am 22. August 2021 fand in Sankt Marien eine Gedenkveranstaltung statt. Weitere Informationen auf den Webseiten der Katholischen Pfarrei St. Pankratius Oberhausen-Osterfeld und der Gedenkhalle Oberhausen.

Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht am 9. November 2021

Unerwartet nach hundert Jahren 2020 aufgetaucht: Erinnerung an jüdisches Leben in Gelsenkirchen.

Wie in jedem Jahr ruft die „Demokratische Initiative“ zur Gedenkkundgebung in Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 auf. Ursprünglich 1964 von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken und der Naturfreundejugend – übrigens als eine der ersten ihrer Art in der Geschichte der alten Bundesrepublik – begründet, führt seit 1993 die „Demokratische Initiative gegen Diskriminierung und Gewalt, für Menschenrechte und Demokratie – Gelsenkirchen“ (DI) die Tradition der jährlichen Gedenkveranstaltungen fort.

In diesem Jahr beginnt die Gedenkveranstaltung an der Neuen Synagoge Gelsenkirchen um 18.30 Uhr am Platz der Alten Synagoge, die wie viele andere 1938 von den Nazis gebrandschatzt worden war. Nach dem Kaddisch, dem Gebet der Trauernden (die männlichen Besucher werden gebeten, eine Kopfbedeckung zu tragen) führt der anschließende Schweigezug ab 18.45 Uhr über die Kurt-Schumacher-Straße und Schalker Straße zum Schalker Markt. Auf der Kundgebung, die dort um 19.15 Uhr starten soll, werden Christina Rühl-Hamers, Vorständin des FC Schalke 04, und Karin Welge, Oberbürgermeisterin der Stadt Gelsenkirchen und Schirmherrin der Demokratischen Initiative sprechen.

Die DI wurde im Dezember 1992 als Reaktion auf die Brandanschläge in Hoyerswerda, Mölln und Rostock-Lichtenhagen gegründet. In ihr haben sich unter der Schirmherrschaft des jeweiligen Oberbürgermeisters oder der jeweiligen Oberbürgermeisterin Parteien, Kirchen, karitative Einrichtungen, Gewerkschaften und weitere Organisationen zusammengeschlossen, um für ein demokratisches Miteinander in Gelsenkirchen einzutreten.

Es gelten die üblichen Coronabedingten Regeln. Weitere Informationen hier.

Kleines Update
Nach der Veranstaltung bietet das Alfred-Zingler-Haus im Margaretenhof 10-12 ab etwa 20 Uhr im Café Alfred ein formloses Nachtreffen zum Plaudern mit Musik, heißer Suppe und kalten Getränken an. Die Musik kommt von Norbert Labatzki, wahrscheinlich bringt er noch Verstärkung mit. Er wird seine Antennen ausfahren und sich musikalisch den Bedürfnissen der Gäste anpassen, also Hintergrund, falls viel Bedürfnis nach Austausch sein sollte, Vordergrund, wenn die Gäste eher zuhören mögen. Es gilt 3G (Geimpft, genesen, getestet).

Eindrücke von der FriedensFahrradtour 2021

Unterwegs mit der FriedensFahrradtour 2021 der DFG-VK NRW, hier auf dem Weg nach Dülmen.

Unter dem Motto „Auf Achse für Frieden & Abrüstung“ führte die traditionsreiche Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) NRW ihre inzwischen 8. FriedensFahrradtour durch Nordrhein-Westfalen durch. Vom 31. Juli bis zum 8. August ging es von Bielefeld über Wewelsburg, Soest, Dortmund, Dülmen, Hamminkeln, Kalkar und Xanten nach Düsseldorf. Die mehrere hundert Kilometer lange Tour verband die Erinnerung an den Vernichtungskrieg, der mit dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren begann, mit dem Protest gegen die Bereithaltung und Entwicklung aktueller militärischer Potentiale. Nicht zuletzt wurde auch darauf hingewiesen, dass das Militär einer der Hauptverursacher für den Klimawandel ist.

Gut 20 Teilnehmende fuhren wie ich die gesamte oder den größten Teil der Strecke mit, hinzu kamen weitere Friedensradler:innen, die uns auf Teilstrecken begleiteten. So holten uns beispielsweise zwei Dortmunder in Soest ab, auch die Friedensfreunde Dülmen kamen uns bereits auf dem Weg zu ihnen entgegen. Die meisten Radler:innen kamen aus NRW, Gelsenkirchen stellte mit vier Radler:innen sogar die größte Einzelgruppe. Das Alter der gut 20 Teilnehmenden reichte von erstaunlichen 14 (!) bis 71 Jahren.

Auftaktkundgebung in Bielefeld.

Die Tour begann nach der je individuellen Anreise (ich fuhr mit dem Zug über Hamm) am 31. Juli in Bielefeld mit einer Auftaktkundgebung am Alten Rathaus, daran schloss sich eine Fahrrad-Demo durch Bielefeld an. Mittags erreichten wir die Gedenkstätte in Stukenbrock, wo der von den Überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen errichtete Obelisk und die daneben liegenden und kaum noch erkennbaren Massengräbern an die Geschichte erinnern. Ein hochbetagtes Gründungsmitglied der Initiative „Blumen für Stukenbrock“, die sich seit den 1960er Jahren der Versöhnung über Gräbern verschrieben hat, führte uns über den Friedhof, erzählte wie sie ihre Arbeit damals begonnen hatten und erläuterte kritisch die gegenwärtige Gestaltung. (Mehr zu Stukenbrock in meinem früheren Beitrag hier.)

Die FriedensFahrradtour am Obelisken in Stukenbrock.

Von Stukenbrock aus ging es weiter zur Wewelsburg, wo nach jahrelangem Streit in den 1980er Jahren die erste Gedenkstätte, die sich zentral mit den Tätern beschäftigt, eröffnet wurde. In der Wewelsburg selbst sind ein heimatkundliches historisches Museum und eine Jugendherberge untergebracht, die Ausstellung zur SS ist im damals von der SS errichteten Wachgebäude untergebracht. In der Jugendherberge, in der ich immer schon mal übernachten wollte, verbrachten wir insgesamt zwei Nächte und nutzen den Folgetag zunächst zu einer geführten Besichtigung der Ausstellung zur SS im Wachgebäude. Zur Führung gehörte auch die Besichtigung der beiden Räume, die die SS von KZ-Zwangsarbeitern errichten ließ: der „Obergruppenführersaal“ mit der sogenannten „Schwarzen Sonne“ im Fußboden und die „Gruft“ im Untergeschoss. (Mehr zur Wewelsburg in meinem früheren Beitrag hier.)

Besuch der Ausstellung zur SS im ehemaligen Wachgebäude der SS.

Während der Mittagspause nutzten wir mit einem Teil der Gruppe die freie Zeit, um das Gelände des ehemaligen KZ Niederhagen und des SS-Schießstandes aufzusuchen. Das ehemalige KZ-Gelände ist nach dem Kriegsende zu einem neuen Stadtteil geworden und Teile der Gebäude wurden umgebaut und weiter genutzt. Nach auch hier jahrzehntelangem Streit war auf dem früheren Appellplatz ein Mahnmal errichtet worden. Für uns nicht mehr zu erkennen war, welches der beiden heutigen Wohngebäude das frühere Torhaus zum KZ gewesen ist.

Mahnmal auf dem früheren Appellplatz des KZ Niederhagen, heute einem Stadtteil von Wewelsburg.

Der weitere Tag diente dem gegenseitigen Kennenlernen, Absprachen und der Vorbereitung eines Straßentheaterstücks, welches im weiteren Verlauf der Fahrt in Soest und in Dülmen aufgeführt wurde. Inhalt des Stücks war die Darstellung einer militärischen Drohne, die spielerisch von Honigbienendrohnen überwältigt wurde. Nach einer ersten Probe wurden in großer Runde Kritik und Änderungsvorschläge unterbreitet, die schließlich zu einigen Verbesserungen führten.

Aktionsvorbereitung in der Jugendherberge Wewelsburg.

Am nächsten Tag, dem 2. August fuhren wir von Wewelsburg nach Soest. Insgesamt hatten wir während der Fahrt viel Glück mit dem Wetter, meist war es trocken oder gar sonnig, gelegentlich hatten wir Sprühregen. Nur an diesem Vormittag während der Abfahrt von der Wewelsburg regnete es längere Zeit.

Kundgebung auf dem Marktplatz in Soest.

In Soest wurden wir auf dem Marktplatz von der dortigen Friedensinitiative empfangen, die Cafes des Platzes waren gut besucht und die Kundgebung war nicht zu übersehen. Das in der Jugendherberge Wewelsburg geprobte „Drohnentheater“ wurde hier erstmals öffentlich aufgeführt. Nachdem ein jonglierender Teilnehmer erste Aufmerksamkeit erweckt hatte, stellten sich die militärische Kampfdrohne und die biologische Bienendrohne vor. In einem kleinen Zwischenspiel treibt ein Finanzbeamter Steuergelder ein, während die Bienen Blumen bestäuben. Als die Kampfdrohne immer aggressiver wird, umringen die Bienen sie und ringen sie mit lautem Summen nieder.

Am Schluss der Vorstellung verbeugen sich die Darsteller:innen vor dem Publikum.

Der Kundgebung auf dem Marktplatz folgte eine Fahrrad-Demo mit einem eher unglücklichen Zwischenhalt an einer engen, vielbefahrenen Brücke und zu einer Gedenkkundgebung auf dem Osthofenfriedhof. Der Tag endete mit unserer Fahrt zur Jugendherberge, in der wir die Nacht verbrachten.

Nach der „Action“ auf dem Marktplatz würdevolles Gedenken auf dem Friedhof in Soest.

Der 3. August führte uns von Soest nach Dortmund. Wie oben bereits erwähnt holten uns zwei Dortmunder in der Soester Jugendherberge morgens ab und fuhren gemeinsam mit uns nach Dortmund. Mit einer Kundgebung an der Westfalenhalle und einer Kranzniederlegung am Gedenkstein wurde erneut an den faschistischen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren gedacht. Daran anschließend fuhren wir in die Dortmunder Innenstadt zum Hansaplatz, wo wir – gegenüber vom „Platz von Hiroshima“ – vom Dortmunder Friedensforum zu einer Kundgebung begrüßt wurden.

Kranzniederlegung am Gedenkstein an der Westfalenhalle, Dortmund.

In der Jugendherberge unweit davon verbrachten wir nicht nur die Nacht. Dmitriy Kostovarov berichtete in einer Abendveranstaltung über seine Arbeit, die darin besteht Familien in Russland Fotos vom Grab des Vaters oder Großvaters zu schicken. Falsche Schreibweisen von Namen und unterschiedliche Gestaltung der in kommunaler Zuständigkeit befindlichen Gräber sind dabei ein großes Problem. Einmal mehr wurde wie schon in Stukenbrock deutlich, dass die Versöhnung mit Russland trotz der großen Verbrechen aufgrund des Kalten Kriegs keine Priorität hatte.

Dmitriy Kostovarov berichtet an der Dortmunder Westfalenhalle von seiner Arbeit gegen das Vergessen.

Am 4. August stand die Fahrt von Dortmund nach Dülmen auf dem Programm. Auch hier kamen uns unterwegs einige Mitglieder der Friedensfreunde Dülmen entgegen und fuhren mit uns gemeinsam zuerst zu einem Standort eines US-Waffendepots, wo wir eine Kundgebung und eine Blockade durchführten. Daran anschließend wurde unsere FriedensFahrradtour vom Dülmener Bürgermeister begrüßt. Der Tag endete mit einem Friedensfest im DJK-Clubheim, wo erneut das „Drohnentheater“ aufgeführt wurde. Die Übernachtung fand auf dem Sportplatz statt und erstmals bei dieser Tour in Zelten. Ich hatte Glück.

Blockade eines US-Waffendepots in Dülmen.

Der folgende Tag, der 5. August, führte uns nach Hamminkeln. An diesem Tag gab es keine weitere Aktion. In Hamminkeln stand lediglich eine Übernachtung auf dem Campingplatz an. Waren wir in den Jugendherbergen und auf dem Sportplatz verpflegt worden, musste nun – mit Unterstützung aus der Gruppe – für die gesamte Gruppe gekocht werden. Ich betätigte mich als Küchenhilfe. Aufgrund der Corona-Pandemie musste jeder einen eigenen Teller, eine eigene Tasse und eigenes Besteck mitbringen, so dass die Küchen-Crew anschließend nur die großen Töpfe und was sonst noch angefallen war spülen musste. Schließlich wurde für den Folgetag noch die Performance „Hiroshima mahnt!“ vorbereitet und die Verteilung der Buchstaben abgesprochen.

Das Schandmal in Kalkar, wer genau hinschaut, kann noch die Spuren der jüngsten Aktionen erkennen.

Am 6. August, dem Hiroshima-Gedenktag, ging es zuerst nach Kalkar und anschließend nach Xanten. In Kalkar fand auf dem Marktplatz eine Kundgebung statt. Unter anderem berichtete dort der Aktionskünstler Wilfried Porwol über den aktuellen Stand der Klagen wegen Sachbeschädigung und erläuterte die übrig gebliebenen Spuren seiner beiden jüngsten Aktivitäten, die wir später am Denkmal besichtigen konnten. (Mehr zu den ersten Aktionen in meinem früheren Beitrag hier.)

„Hiroshima mahnt!“ auf dem Marktplatz in Xanten.

In Xanten wurden wir auf dem Marktplatz von einer Kundgebung mit Friedensliedern empfangen. Ähnlich wie in Soest war die Innenstadt gut besucht und unsere in Hamminkeln vorbereitete Performance „Hiroshima mahnt!“ fand durchaus Aufmerksamkeit. Wie besprochen erhielt jeder der Teilnehmenden einen großen Pappbuchstaben und fiel sobald die Sirene ertönte wie tot um. Begleitet vom Song „Hiroshima“ erhob sich in Buchstabenreihenfolge jeder der „Toten“ und stellte sich nacheinander zum Slogan „Hiroshima mahnt!“ auf.

„Hiroshima mahnt!“ auf dem Marktplatz in Xanten.

Die Übernachtung fand in einem Heuhotel statt, wo wir in Schlafsäcken und im Vergleich zu den Isomatten und den Zelten weich und warm schlafen konnten. Der nächste Tag bestand wieder aus einer langen Fahrradfahrt, die uns zu einem Campingplatz nach Düsseldorf führte.

Letzte gemeinsame Übernachtung auf dem Campingplatz in Düsseldorf.

Von hier aus ging es am folgenden Tag, dem 8. August zum Johannes-Rau-Platz in Düsseldorf. Hier wurden wir wiederum vom örtlichen Friedensforum begrüßt. Erneut wurde die Performance „Hiroshima mahnt!“ aufgeführt. Hier endete die FriedensFahrradtour und jeder trat seine Rückreise an. Wir fuhren noch gemeinsam mit einer kleinen Gruppe mit den Rädern zum Düsseldorfer Hauptbahnhof, wo drei von uns in den Zug stiegen, der uns nach Essen, Gelsenkirchen bzw. Münster brachte.

Letzte Vorbereitungen für die letzte Kundgebung der FriedensFahrradtour 2021.

Insgesamt war es für mich eine sehr beeindruckende Tour. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass trotz unvorhergesehener Zwischenfälle und Verspätungen das gesamte Programm der FriedensFahrradtour durchgeführt werden konnte. Mir hat es gefallen – im nächsten Jahr bin ich gerne wieder mit dabei!