Archiv der Kategorie: Erster Weltkrieg

„Engel der Kulturen“ oder Nazi-Schwert Numero 2?

Denkmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der Wiehagenschule.

Wieder einmal steht die Stadt Gelsenkirchen vor der denk(mal)würdigen Frage, wie sie mit einem aus der NS-Zeit stammenden Schwert-Denkmal umgehen will. Es handelt sich dieses Mal um ein 1938 an der Fassade der Wiehagenschule in der Neustadt angebrachtes Schwert-Symbol und darunter angebrachten Tafeln mit Namen von 40 im Ersten Weltkrieg gefallenen Schülern. Das Schulgebäude selbst war bereits 1900/1908 errichtet worden. – Dieses Mal gibt es allerdings einen künstlerischen Gegenentwurf zum Nazi-Schwert!

Ganz modern gibt sich die Wiehagenschule, eine städtische Gemeinschaftsgrundschule in der Josefstraße 28 in Gelsenkirchen-Neustadt. Sie ist die erste Schule in Gelsenkirchen, die komplett digital ausgestattet ist. Es gibt ein flächendeckendes WLAN, interaktive Tafeln in den Klassenzimmern und Computerarbeitsplätze für die Lehrer. Doch während in der Medienöffentlichkeit stolz das „Ende der Kreidezeit“ im Klassenraum gefeiert wurde, dürfen sich die sechs- bis neunjährigen Schülerinnen und Schüler in den Pausen ein am Gebäude angebrachtes lorbeerumkränztes Schwert ansehen, das an gefallene Soldaten aus einem mehr als hundert Jahre zurückliegenden imperialistischen Krieg erinnert.

Immerhin unterscheidet es sich von anderen Nazi-Denkmalen in unserer Stadt, denn es fehlt zumindest der Satz „Sie starben für Deutschland“. Erfreulicherweise fehlen auch Bruchstellen, die anzeigen, das hier 1945 ein Hakenkreuz entfernt worden ist. Dennoch gehört es zu jenen Denkmalen, die ab 1933 in Nazi-Deutschland errichtet worden sind, um die Toten des Ersten in den Dienst der Kriegsvorbereitung für den Zweiten Weltkrieg zu stellen. Das Schulgebäude ist in die Denkmalliste der Stadt eingetragen, ob der Denkmalschutz zwischen einem 1900/1908 errichten Gebäude und einem 1938 angebrachten Schwert-Symbol unterscheiden kann, lässt sich sicherlich feststellen.

Die Wiehagenschule, eine städtische Gemeinschaftsgrundschule in der Josefstraße 28 in Gelsenkirchen-Neustadt.

Wie die WAZ am 06.02.2018 berichtete, wurde das Denkmal von Franz Marten entworfen und von einem Nazi-Regierungsrat aus Münster eingeweiht. Anlass des Zeitungsartikels war die Behandlung des Denkmals im Bildungsausschuss am 01.02.2018 auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Am Beispiel des Künstlers Franz Marten lassen sich auch die üblichen personellen Kontinuitäten zwischen der NS-Diktatur und der frühen Bundesrepublik aufzeigen. Franz Marten ist zugleich auch der Schöpfer der „Fünf Säulen der Wirtschaft“ von 1949, der bunten Glasfenster im ehemaligen Gelsenkirchener Bahnhofsgebäude, die jetzt im ehemaligen Böker-Haus zu Beginn der Bahnhofstraße zu bewundern sind.

Anlass der Debatte im Bildungsausschuss war das Interesse der Schule, das Projekt „Engel der Kulturen“ im Rahmen einer Umgestaltung des Schulhofes umzusetzen. Bei „Engel der Kulturen“ handelt es sich um eine Kunstaktion, welches die Gemeinsamkeiten der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam künstlerisch ausdrückt, und die seit zehn Jahren im In- und Ausland durchgeführt wird. An einer Schule mit einem hohen Migrantenanteil ist das sicherlich ein sinnvolles Projekt, um Gemeinsamkeiten statt Unterschiede zu betonen.

Für die beiden Künstler, Gregor Merten und Carmen Dietrich, ist es jedoch vollkommen unverständlich, dass „offensichtlich unreflektiert Hunderte Kinder täglich mit dieser überdimensionalen, heroisierenden Darstellung einer barbarischen Waffe konfrontiert werden, die über ihren Köpfen schwebt.“ Gerade weil ihnen als bildende Künstler die Wirkung von Symbolen sehr deutlich ist, fordern sie, dass das Schwert entfernt wird. Sie stellen den Zusammenhang zu den bestialischen Morden des „Islamischen Staats“ her und betonen, dass sie „die Wirkung eines über den Köpfen von Kindern mit überwiegend muslimischem Hintergrund und deren Angehörigen schwebenden Schwertes als absolut problematisch“ ansehen.

Gedenktafel an der Wiehagenschule in Gelsenkirchen-Neustadt.

Ihr Vorschlag lautet, das Schwert zu entfernen und mit einem Teil des Zementputzes „den Engel der Kulturen als Bodenintarsie entstehen zu lassen“. Dieses wäre „ein Zeichen für ein friedliches Zusammenleben aller Kulturen in der Stadt Gelsenkirchen“. An die Toten könne „mit einer Tafel und entsprechendem Text“ weiter gedacht werden. Die Politik scheint jedoch noch nicht soweit zu sein. Wie die WAZ in der gleichen Ausgabe berichtet, sieht Barbara Filthaus (SPD) keinen Handlungsbedarf, da die Schüler das Schwert gar nicht wahrnehmen würden. Der Bündnisgrüne Burkhard Wüllscheidt möchte jedoch am Thema dran bleiben. Das Ratsinformationssystem ist natürlich noch nicht so weit, mehr Informationen als die WAZ zu liefern.

Zurückliegender und inzwischen korrigierter Blogbeitrag.

Kriegerdenkmale und Kriegsvorbereitung in Gelsenkirchen (IV) – Gefallene der Wiehagenschule

Die Wiehagenschule, eine städtische Gemeinschaftsgrundschule in der Josefstraße 28 in Gelsenkirchen-Neustadt.

Ganz modern gibt sich die Wiehagenschule, eine städtische Gemeinschaftsgrundschule in der Josefstraße 28 in Gelsenkirchen-Neustadt. Sie ist die erste Schule in Gelsenkirchen, die komplett digital ausgestattet ist. Es gibt ein flächendeckendes WLAN, interaktive Tafeln in den Klassenzimmern und Computerarbeitsplätze für die Lehrer.

Doch während in der Medienöffentlichkeit stolz das „Ende der Kreidezeit“ im Klassenraum gefeiert wird, dürfen sich die sechs- bis neunjährigen Schülerinnen und Schüler in den Pausen ein am Gebäude angebrachtes lorbeerumkränztes Schwert ansehen, dass an gefallene Soldaten aus einem hundert Jahre zurückliegenden Krieg erinnert. Das 1900/1908 errichtete Gebäude muss noch ziemlich neu gewesen sein, als nach dem Ersten Weltkrieg diese Denkmalsgestaltung angebracht wurde, die an die „Gefallenen der Wiehagenschule“ erinnert.

Denkmal für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der Wiehagenschule.

Immerhin müssen wir angesichts anderer öffentlicher Denkmale in Gelsenkirchen schon froh darüber sein, dass es wohl nicht aus der Nazi-Zeit stammt, sondern vorher angebracht worden ist. Es fehlt ein Satz wie „Sie starben für Deutschland“ und Bruchstellen, die anzeigen, dass nach 1945 ein Hakenkreuz entfernt worden ist.

40 Namen sind auf der unter dem Schwert angebrachten Tafel angegeben, ohne dass zu erkennen ist, ob es sich um Lehrer oder Schüler handelt. Selbstverständlich ist das Schulgebäude (und damit wohl auch das Denkmal) in der Denkmalliste der Stadt eingetragen und kann daher nicht mehr verändert werden. Dennoch frage ich mich, ob und welche Rolle die Gedenktafel im Schulleben spielt.

Supplement
Wie die WAZ am 06.02.2018 berichtete, stammt das Ding aus dem Jahr 1938 und diente damit wohl wie auch vergleichbare Denkmale in Gelsenkirchen der Kriegsvorbereitung. Es wurde von Franz Marten entworfen und von einem Nazi-Regierungsrat aus Münster eingeweiht. Bei den 40 Gefallenen handelt es sich um ehemalige Schüler der Schule. Anlass des WAZ-Artikels war die Behandlung des Denkmals im Bildungsausschuss am 01.02.2018. Sein Unbehagen an derartiger Thematisierung der Vergangenheit feuilletonierte Heinz Niski im Online-Magazin Herr Kules und wies darin auch auf den spanischen Umgang mit faschistischen Denkmalen hin. – Vielleicht sollte man Efeu darüber wachsen lassen?

Gedenktafel an der Wiehagenschule in Gelsenkirchen-Neustadt.

Kriegerdenkmale und Kriegsvorbereitung in Gelsenkirchen (II)

Kriegerdenkmal von Joseph Enseling aus dem Jahre 1926 auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Kriegerdenkmal von Joseph Enseling aus dem Jahre 1926 auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Sechs sogenannte „Kriegerdenkmale“ verzeichnet die Denkmalliste der Stadt Gelsenkirchen. Neben fünf mit nationalkitschigem bis faschistischem Hintergrund (vgl. meinen Beitrag hier) gibt es noch ein wenig bekanntes Denkmal auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Die trauernde Figur stammt von Joseph Enseling aus dem Jahr 1926 und mit ihr unterscheidet sich das Denkmal durch die Gestaltung deutlich von den anderen fünf „Kriegerdenkmalen“. Zudem befindet sich das Denkmal auf einem Friedhof, umgeben von etwa 400 Gräbern für Gefallene beider Weltkriege. Das Eiserne Kreuz auf der Rückseite des Denkmals zeigt an, dass es sich um einen Soldatenfriedhof handelt.

Grabstätten für Gefallene des Ersten Weltkriegs auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Grabstätten für Gefallene des Ersten Weltkriegs auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler. Die Kreuze im Hintergrund erinnern an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges.

Die Grabplatten für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges sind nach fast hundert Jahren teilweise stark verwittert und überwachsen. Namen, Ort und Jahreszahlen sind oft kaum noch zu lesen, Jahreszahlen noch zu erfühlen. Allerdings befinden sich die meisten deutschen Soldatengräber des Ersten Weltkrieges nicht in Deutschland, sondern in den Ländern, in denen sie der Krieg führte.

Grabstein für einen im Ersten Weltkrieg Gefallenen auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Grabstein für einen im Ersten Weltkrieg Gefallenen auf dem Westfriedhof in Gelsenkirchen-Heßler.

Als Quelle für diesen Beitrag dienten mir ein Artikel im Gelsenkirchen Wiki sowie ein Thread im Forum der Gelsenkirchener Geschichten, der viele Fotos des Westfriedhofs enthält.

Kriegerdenkmale und Kriegsvorbereitung in Gelsenkirchen

Das Ehrenmal in Gelsenkirchen-Buer, Zum Ehrenmal.

Das Ehrenmal in Gelsenkirchen-Buer, Zum Ehrenmal.

Vor einhundert Jahren tobte der Erste Weltkrieg nun schon seit fast zwei Jahren. 1914 begonnen, war ein Ende nicht absehbar, waren sogar weitere Staaten 1915 und 1916 in den Weltkrieg eingetreten. In unserer Gegenwart wird die öffentliche Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges in diesem Jahr von zwei Ereignissen bestimmt: der Schlacht vor Verdun und dem Völkermord an den Armeniern. In Westeuropa schickten die jeweiligen militärischen Oberbefehlshaber 1916 deutsche und französische Truppen vor Verdun in den Tod einer sinnlosen „Materialschlacht“. Im Orient schickten 1915/16 staatliche Stellen die seit Jahrhunderten in Anatolien siedelnden christlichen Armenier in den Tod und löschten die westarmenische Kultur aus.

Auch an Gelsenkirchen und seinen Bürgern ging der Erste Weltkrieg nicht spurlos vorüber, wenn die Stadt auch von militärischen Kämpfen verschont blieb. Die Bevölkerung litt unter der zunehmend schlechter werdenden Ernährung und unter verschlechterten Arbeitsbedingungen. Die Lücken in den Zechen und Industriebetrieben durch die in den Krieg eingezogenen Männer wurden nicht nur durch Mehrarbeit der verbliebenen Männer ausgeglichen, sondern auch durch den Einsatz von Kriegsgefangenen und durch Frauenarbeit. Die für den Krieg produzierenden Industrieellen konnten ihre Gewinne steigern, während mehr als 7300 Soldaten aus den Gemeinden Gelsenkirchen, Buer und Horst in den Jahren 1914 bis 1918 auf den Schlachtfeldern starben.

Kriegerdenkmal des „Turner-Club Gelsenkirchen von 1874 e.V.“ aus dem Jahr 1924, Hauptstraße 50 am Grillo-Gymnasium

Kriegerdenkmal des „Turner-Club Gelsenkirchen 1874 e.V.“ aus dem Jahr 1924, Hauptstraße 50 am Grillo-Gymnasium.

Heute erinnern an den Ersten Weltkrieg in Gelsenkirchen noch einige steinerne Zeugen, in der Denkmalliste der Stadt Gelsenkirchen (vom 17.05.2011) sind sie als „Kriegerdenkmal“ aufgeführt. Nun könnte man meinen, die Denkmale dienten nur der Erinnerung an die gefallenen Soldaten aus Gelsenkirchen. Mehrere von ihnen wurden jedoch nach 1933 errichtet. Mit ihnen stellten die Nazis die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten in den Dienst ihrer innenpolitischen Kriegsvorbereitung für den Zweiten Weltkrieg. Ein vergessenes Kriegerdenkmal aus der Nazi-Zeit wurde sogar erst 2015 von einem nichtöffentlichen Werksgelände in den öffentlichen Raum der Stadt versetzt.

Kriegerdenkmal am Grillo-Gymnasium

Zum Antikriegstag, der traditionell an die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland erinnert, war am 1. September 2014 erstmals mit einer Abschlusskundgebung vor dem fast vergessenen und zugewachsenen Denkmal am Grillo-Gymnasium auch an den Ersten Weltkrieg erinnert worden. Dieses Denkmal war vom „Turner-Club Gelsenkirchen 1874 e.V.“ bereits im Jahre 1924 für „unserer im Weltkriege 1914-1918 gefallenen 71 Turnbrüder“ errichtet worden. Wie der Inschrift auf dem Denkmal weiter zu entnehmen ist, war der 50. Jahrestag der Vereinsgründung am 27. Juli 1924 der Anlass der Denkmalstiftung. Wie auch andere Kriegerdenkmale des Ersten Weltkrieges wurde seine Widmung nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzt. In diesem Fall um „54 gefallene Turnbrüder 1939-1945“. Die Gestaltung zeigt unter anderem einen Stahlhelm und ein Eisernes Kreuz. Zum Antikriegstag 2014 ist es in ein temporäres Denkmal für den unbekannten Deserteuer umgewandelt worden.

Kriegerdenkmal am Machensplatz

Kriegerdenkmal am Machensplatz in Erinnerung an das Reserveregiment 56 aus dem Jahre 1934.

Kriegerdenkmal am Machensplatz in Erinnerung an das Reserveregiment 56 aus dem Jahre 1934.

Am Machensplatz, gegenüber dem früheren Gelsenkirchener Rathaus, war im Jahre 1934 ein Kriegerdenkmal dem Reserveregiment 56 gewidmet worden. Wie dem Beitrag „Auf den Spuren des Ersten Weltkrieges“ zu entnehmen ist, waren die Gelsenkirchener Soldaten des Regiments in der damaligen Georgschule in der Altstadt versammelt und ausgerüstet worden. Sie wurden am 6. August 1914 verladen und kamen zusammen mit der 13. Reservedivision zur Westfront. Die Einheit erlitt schwere Verluste beim ersten Kampfeinsatz im September 1914 und wurde auch 1916 in der Schlacht um Verdun eingesetzt. Das Denkmal wurde genau 20 Jahre nach dem ersten Kampfeinsatz eingeweiht, um der Verluste bei der sogenannten „Feuertaufe“ zu gedenken. (Der ursprüngliche Beitrag ist auf der Internet-Seite der Stadt Gelsenkirchen nicht mehr vorhanden, aber im Wiki der Gelsenkirchener Geschichten dokumentiert.)

Dahlbuschdenkmal aus dem Jahre 1937, heute im Dahlbuschpark an der Beethovenstraße in Gelsenkirchen-Rotthausen

Dahlbuschdenkmal aus dem Jahre 1937, heute im Dahlbuschpark an der Beethovenstraße in Gelsenkirchen-Rotthausen.

Kriegerdenkmal Zeche Dahlbusch

Im heutigen Dahlbusch-Park befindet sich das Ehrenmal der Zeche Dahlbusch sowie eine erläuternde Tafel nach dem städtischen Konzept der Erinnerungsorte. Danach war das Ehrenmal 1937 durch die Bergwerksgesellschaft Dahlbusch zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Werksangehörigen errichtet worden. Es stand ursprünglich vor der Schachtanlage 8 an der Rotthauser Straße. Der heute noch vorhandene Steinquader war vom Halfmannshofer Künstler Hubert Nietsch, der auch das Kriegerdenkmal Schalker Verein (weiter unten) und weitere Nazi-Kunst geschaffen hat, gestaltet worden.

Es zeigt einen Soldaten und einen Bergmann, die ursprünglich von einem Eisernen Kreuz und einem Hakenkreuz flankiert waren. Der Kriegstod der Bergleute wurde durch die Bildsprache und die Inschriften „Unseren gefallenen Arbeitskameraden“ und „Sie starben für Deutschland“ heroisiert und mit dem Nationalsozialismus verknüpft. Nach der Schließung der Zeche wurde der Steinquader in den heutigen Dahlbusch-Park versetzt und soll nun, so heißt es zumindest auf der Tafel, an die Toten des Ersten Weltkrieges wie an deren Instrumentalisierung durch die Nazis erinnern. Wie man sich das vorzustellen hat, bleibt allerdings der Phantasie des Besuchers überlassen.

Kriegerdenkmal „Ehrenmal“ in Buer

Das größte und auch über Gelsenkirchen hinaus bekannte Kriegerdenkmal ist das oft einfach nur „Ehrenmal“ genannte Denkmal in Gelsenkirchen-Buer auf einer Anhöhe am Berger See gelegen. Auch hier findet sich eine erläuternde Tafel nach dem städtischen Konzept der Erinnerungsorte. Danach ging die ursprüngliche Initiative 1925 von der Bueraner Bürgerschaft aus um die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten sowie die Toten der französisch-belgischen Ruhrbesetzung von 1923 zu ehren. Als das Denkmal am 13. Mai 1934 feierlich eingeweiht wurde, hatten die Nazis die Gestaltung geprägt, neben einem Hakenkreuz fanden sich auch sogenannte „Märtyrern“ der NSDAP in den Inschriften. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle Nazi-Inschriften und -Symbole entfernt, sowie Inschriften ergänzt, die an die Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnern und zum Frieden mahnen. Das Ehrenmal hat einen eigenen Eintrag in der Wikipedia.

Das Ehrenmal in Gelsenkirchen-Buer, Zum Ehrenmal.

Das Ehrenmal in Gelsenkirchen-Buer, Zum Ehrenmal.

Kriegerdenkmal des Schalker Vereins

Neben diesen bereits im öffentlichen Raum befindlichen Denkmalen versetzte die Stadt Gelsenkirchen im Jahre 2015 ein zuvor auf dem Werksgelände des ehemaligen Schalker Vereins vergessenes Kriegerdenkmal an einen öffentlichen Weg. Wieder findet sich eine erläuternde Tafel nach dem städtischen Konzept der Erinnerungsorte sowie ein Stein mit der  Inschrift „Die Toten mahnen zum Frieden“.

Es handelt sich um ein 5 Meter hohes, lorbeergeschmücktes Schwert aus Gussstahl, angebracht an einer 6 Meter hohen Granitstele. Ursprünglich war es am 1. Mai 1937 auf dem Gelände des Schalker Vereins feierlich eingeweiht worden. Mit den Inschriften wie beim Dahlbusch-Denkmal (weiter oben) „Den gefallenen Arbeitskameraden 1914-1918“ und „Sie starben für Deutschland“ wurden die im Ersten Weltkrieg gefallenen Werksangehörigen in den Dienst der innenpolitischen Kriegsvorbereitung der Nazis gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Jahre 1939-1945 ergänzt. Danach geriet es in Vergessenheit und wuchs in einer Ecke des Geländes zu.

Kriegerdenkmal des Schalker Vereins - ein Nazi-Schwert aus dem Jahre 1937 wurden 2015 an einen öffentlichen Weg umgesetzt.

Kriegerdenkmal des Schalker Vereins – ein Nazi-Schwert aus dem Jahre 1937, wurde 2015 an einen öffentlichen Weg umgesetzt.

Nach dem Verkauf des Schalker Vereins vor einigen Jahren und während der Umgestaltung des früheren Werksgeländes wurde es wiederentdeckt. Es wurde unter Denkmalschutz gestellt und kurz vor dem 9. November 2015 an einen öffentlichen Weg in der Nähe des alten Standortes umgesetzt. Dagegen fordert die Gelsenkirchener VVN -BdA eine öffentliche Diskussion und die Umgestaltung in ein antifaschistisches Denkmal. Gerade auf dem Gelände des Schalker Vereins bietet sich die Thematisierung von Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit, Widerstand und Bombenkrieg an, um aus der Geschichte zu lernen, dass und warum sie sich nicht wiederholen darf. (Eine ausführliche Berichterstattung dazu findet sich hier.)

Weitere Erinnerungsorte in Kirchen und Schulen

Als Antwort auf meine Frage im Forum der „Gelsenkirchener Geschichten“ erhielt ich neben dem bei diesem Thema fast schon zu erwartenden Troll aus dem rechten Spektrum wertvolle Hinweise auf weitere Erinnerungsorte in Gelsenkirchen an weniger öffentlichen Orten. So hat es in Kirchen und Schulen Gedenktafeln oder in einem Fall ein Gedenkbuch der Gefallenen gegeben, die teilweise durch Umbauten verschwunden sind, teilweise noch heute vorhanden sind. Unterscheiden lässt sich meines Erachtens zwischen einem namentlichen Gedenken, in dem die einzelnen Personen im Vordergrund stehen, und der Verklärung der Toten des Ersten Weltkrieges durch Nazi-affine Denkmale und summarische Inschriften wie „Den gefallenen Arbeitskameraden“ und „Sie starben für Deutschland.“ Dabei sind die Grenzen sicherlich fließend, denn auch vor 1933 gab es eine nationalistische Verklärung der Toten des Ersten Weltkrieges.

Nazi-Schwert wechselt für 30 000 Euro seinen Standort

Denkmal an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Werksangehörigen des Schalker Vereins aus der Nazi-Zeit (1937)

Denkmal an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Werksangehörigen des Schalker Vereins aus der Nazi-Zeit (1937)

Sie gehörte zu den vergessenen Denkmälern in Gelsenkirchen, die wuchtige, sechs Meter hohe vierkantige Säule aus sechs Granitquadern mit dem fünf Meter langem lorbeerumringten Schwert aus Gussstahl. Auf dem Gelände des ehemaligen Schalker Vereins, hinter den Torhäusern an der Wanner Straße in Gelsenkirchen-Bulmke steht sie unbeachtet und vergessen zwischen Bäumen. Doch dort soll sie nicht bleiben.

Eingeweiht wurde sie am 1. Mai 1937, dem von den Nazis pompös gefeierten „Tag der nationalen Arbeit“. Die Gestaltung geht auf den Bildhauer Hubert Nietsch (Künstlersiedlung Halfmannshof) zurück, von dem weitere NS-affine Kunst bekannt ist. Ihr Zweck ist eindeutig: Verklärung der Gefallenen des Ersten Weltkrieges im Sinne der Nazi-Ideologie, unzweideutig an der Gestaltung und der von den Nazis gerne verwendeten Inschrift „Sie starben für Deutschland“ zu erkennen.

InschriftenNach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal um die Erinnerung an die gefallenen Werksangehörigen der Jahre 1939 bis 1945 ergänzt. Heute ist von dem ursprünglichen Platz rund um die Säule nichts mehr zu erkennen, das Ensemble zu einem stillen Ort geworden. Auch für den Historiker Dr. Schmidt (Institut für Stadtgeschichte) war es eine Neuentdeckung, die mit der Öffnung des ehemaligen Werksgeländes zusammenfiel. Da das Denkmal an seinem jetzigen Standort „einer Vermarktung und Entwicklung eines Gewerbe- und Industrieparks im Wege steht“ plant die Eigentürmerin, die Firma Saint-Gobain, unter Beteiligung des Instituts für Stadtgeschichte und der zuständigen Denkmalbehörde die Verlagerung des Denkmals. Außerdem soll der historische Hintergrund durch eine künstlerische Ergänzung in Form einer Platte aus Stahl mit der Inschrift „Die Opfer der Kriege mahnen zum Frieden“ und eine ISG-Erinnerungsortetafel erklärt werden.

Die Kosten der Verlagerung betragen rund 30.500 Euro, der städtische Anteil daran beträgt 17.300 Euro. Ziemlich viel Geld für den Erhalt von alter Nazi-Kunst. Wie die „künstlerische Ergänzung“ genau aussehen und wirken wird, muss sich erst noch zeigen. Hoffen wir, dass das verlagerte Denkmal kein Anlaufpunkt für heutige Rechtsextremisten wird und „Die Rechte“ nicht am 1. Mai 2016 dort ihren „Tag der nationalen Arbeit“ feiert.

Die Wandinschrift „Nieder mit dem BRD-Imperialismus“ an der Vorderseite der Torhäuser wird wohl weder als Zeugin der politischen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre noch als Kontrapunkt zum Nazi-Schwert denkmalwürdig sein und wahrscheinlich spurlos verschwinden. Kritische Stimmen wünschen das auch dem Nazi-Schwert.

Wandschrift am Tor 1 des früheren Schalker Vereins, später Saint Gobain, Wanner Straße 172, Gelsenkirchen-Bulmke

Wandschrift am Tor 1 des früheren Schalker Vereins, später Saint Gobain, Wanner Straße 172, Gelsenkirchen-Bulmke

24. April 1915 – Beginn des Völkermords an den Armeniern

Das hier ursprünglich verlinkte YouTube-Video wurde aufgrund von Urheberrechtsverletzungen gelöscht. Die 90minütige, 2010 für den NRD produzierte Dokumentation "Aghet" ist seit 2011 auf DVD-Video erhältlich.

Das hier ursprünglich verlinkte YouTube-Video wurde aufgrund von Urheberrechtsverletzungen gelöscht. Die 90minütige, 2010 für den NDR produzierte Dokumentation „Aghet“ ist seit 2011 auf DVD-Video erhältlich.

Im vergangenen Jahr stand die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges hundert Jahre zuvor im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. „Runde“ Gedenktage bieten die Chance auf erhöhte Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit, bieten die Möglichkeit, nicht nur an zurückliegende Ereignisse zu erinnern, sondern über ihre Bedeutung und Auswirkung für die Gegenwart nachzudenken.

In diesem Jahr vor hundert Jahren befand sich die Welt noch immer im Ersten Weltkrieg. An die Seite des Deutschen Kaiserreiches und Österreich-Ungarns war bereits seit Ende 1914 das Osmanische Reich in den Weltkrieg eingetreten. Es umfasste zum damaligen Zeitpunkt nach jahrhundertelangem Abstieg ungefähr das Territorium der heutigen Türkei sowie das Syriens, des Iraks, Jordaniens, des Libanons, Israels und Palästinas. Das Osmanische Reich war ein multiethnischer Staat, in dem neben den herrschenden muslimischen Türken seit Jahrhunderten nationale und religiöse Minderheiten lebten, neben muslimischen Türken und Kurden auch christliche Armenier. Christen galten als Bürger zweiter Klasse und mussten beispielsweise höhere Steuern als Muslime zahlen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte es Pogrome gegen Armenier gegeben.

Am 24. April 1915, heute vor hundert Jahren, begann der Völkermord mit der Verhaftung und Deportation der armenischen Elite aus der Hauptstadt Konstantinopel. Dieser Tag wird in der Republik Armenien, die aus der ehemaligen armenischen Sowjetrepublik gebildet wurde, als Genozid-Gedenktag begangen. Die Armenier selbst bezeichnen den Völkermord als „Aghet“, als Katastrophe. Der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, die Türkische Republik, bestreitet bis heute dass es sich um einen Völkermord gehandelt habe, obwohl die Massaker und Todesmärsche durch umfangreiches dokumentarisches Material unter anderem auch im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes belegt sind und weltweit die meisten Historiker den Völkermord als historische Tatsache ansehen.

Zu den Ursachen des Genozids gehörten der sich am Vorbild der europäischen Nationalstaaten orientierende erwachende Nationalismus und soziale Gegensätze zwischen Armeniern, Kurden und Türken. Mit dem Staatsstreich der „Jungtürken“ um Enver Pascha, Talat Pascha und Cemal Pascha 1913 gewannen nationalistische und pantürkische Vorstellungen die Oberhand in der Regierung. Nach dem Kriegseintritt und militärischen Niederlagen gegen die russische Armee im Kaukasus 1914/15 sowie dem Vordringen russischer Truppen auf osmanisches Gebiet machte die türkische Führung „die Armenier“ kollektiv verantwortlich und nahm die Bedrohung durch die russische Armee zum Anlass die armenische Bevölkerung auch aus frontfernen Gebieten zu deportieren. Ein Aufstand der Armenier in der Stadt Van im April 1915 diente dabei als willkommene Rechtfertigung.

Das Muster der Ereignisse erinnert an heute bekannte „ethnische Säuberungen“ bzw. Völkermorde: Die armenische Bevölkerung, falls sie nicht zum Islam übertrat, musste kurzfristig ihre Habe weit unter Wert verkaufen oder ganz zurücklassen und ihren Wohnort zu Fuß oder in Eisenbahnwaggons zusammengedrängt verlassen. Sie wurde zunächst an einigen Orten konzentriert und dann auf wochenlange Todesmärsche in die Wüste geschickt. Männer und Frauen wurden getrennt, Männer – zum Teil bestialisch – ermordet, Mädchen und Frauen ausgeraubt, vergewaltigt, verkauft, ermordet, Kinder entführt und islamisiert. Zurückgelassene Habe der Deportierten wurde von den Nachbarn geplündert oder per Gesetz enteignet. Schulen, Kirchen und Klöster wurden geplündert, zerstört oder in Moscheen umgewandelt; die westarmenische Kultur komplett ausgelöscht.

Das deutsche Kaiserreich, der Verbündete des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg, verzichtete auf eine Einflussnahme, um, wie es Reichskanzler von Bethmann-Hollweg ausdrückte, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Deutschland machte sich damit mitschuldig am Völkermord.

Wer sich heute mit den Dokumenten der Zeit beschäftigt, wird überrascht sein, wie viele Zeugenberichte vorliegen. Im Dokumentarfilm „Aghet – Ein Völkermord“, den Eric Friedler 2010 für den NDR produzierte, wurde eine kleine Auswahl schriftlicher Berichte von Zeitzeugen durch Schauspieler nachgesprochen. Viele Dokumente befinden sich in Deutschland im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Sie enthalten zahlreiche Berichte von Diplomaten, Militärbeobachtern, Missionaren, medizinischem Personal, Journalisten, Ingenieuren etc., die damals nicht für die Öffentlichkeit, sondern zur Unterrichtung der deutschen Stellen verfasst wurden. Weitere Dokumente lagern u.a. im Österreichischen Staatsarchiv in Wien, im Geheimarchiv des Vatikan und in US-amerikanischen Archiven. Augenzeugenberichte stammen u.a. von Missionaren aus Dänemark, der Schweiz und den Niederlanden sowie von Überlebenden.

Die türkische Regierung leugnet nicht nur den Völkermord, sondern setzt bis in die Gegenwart diplomatische Mittel ein, um eine Anerkennung des Völkermords durch andere Länder zu verhindern. Die Bevölkerung ist da schon weiter. Nach der Ermordung des Journalisten Hrant Dink durch einen 17jährigen, der seine türkische Ehre beleidigt fühlte, demonstrierten 200.000 Türken anlässlich der Beerdigung des Journalisten in Istanbul mit Schildern „Ich bin ein Armenier“. Angesichts dessen ist der jüngste diplomatische Eiertanz der deutschen Bundesregierung einfach nur unsäglich peinlich. Diese stellt sich damit in die Tradition der kaiserlichen Reichsregierung von 1915, die einen wichtigen Verbündeten nicht öffentlich bloßstellen wollte und dafür einen Völkermord in Kauf nahm.

Quellen:
Völkermord an den Armeniern, https://de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern
Gust, Wolfgang (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005

Heiner Karuscheit im Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen

Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen

Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen

„Deutschland 1914 – vom Klassenkompromiss zum Krieg“. – Unter diesem Titel stellt der Gelsenkirchener Autor Heiner Karuscheit sein gleichnamiges Buch, das Anfang des Jahres im Hamburger VSA-Verlag erschienen ist, im Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen vor.

Gegen die Behauptung vom „schlafwandlerischen“ Hineinstolpern der europäischen Mächte in den Krieg vertritt er, dass der deutsche Weg in den Krieg innergesellschaftliche Ursachen hatte und stellt die zentralen Aussagen des Buchs in drei Punkten zur Diskussion:

Erstens: die Gesellschaftspolitik im Kaiserreich war durch ein „Dreiecksverhältnis“ zwischen Militäradel, Bürgertum und Arbeiterbewegung bestimmt. Die vielfach behauptete „Verschmelzung“ von Junkertum und Bourgeoisie zu einer einzigen herrschenden (bürgerlichen) Klasse ist eine Chimäre; die Arbeiterbewegung stand einem adelig-bürgerlichen Klassenbündnis gegenüber, in dem der preußische Gutsadel durch das Kommando über die Armee den Kern der Macht in der Hand hielt.

Zweitens: im Jahr 1909 zerbrach dieses hegemoniale Herrschaftsbündnis in einem unversöhnlichen Streit über die Besteuerung des Großgrundbesitzes, woraufhin das Deutsche Reich in eine schwere Krise von Gesellschaft und Staat geriet. Als die außerparlamentarische Stellung der Armee im Verlauf dieser Krise in Gefahr geriet, drängte der Militäradel im Bündnis mit dem schwerindustriellen Minderheitsflügel der Liberalen die Regierung in einen Krieg, dessen maßgebliche Triebkraft der Erhalt der alten Ordnung gegen Demokratie und Arbeiterbewegung war.

Drittens: die von der SPD verfolgte sozialistische Revolutionsstrategie war im Ansatz verfehlt, denn der Weg zum Sozialismus führte über die Vollendung der bürgerlichen Revolution, d.h. über eine demokratische Revolution. Die falsche Einschätzung der Gesellschaftsstruktur im Kaiserreich begünstigte die Entscheidung bei Kriegsbeginn, das angeblich bürgerlich fortgeschrittene Deutschland gegen den feudal-reaktionären Zarismus zu schützen und die Arbeiter zur Vaterlandsverteidigung aufzurufen.

Der Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen gibt dem Buchautor die Gelegenheit, seine Thesen vorzustellen und mit uns zu diskutieren. Diese Veranstaltung findet am Donnerstag den 30.10.2014, um 19.30 Uhr, im Alfred-Zingler-Haus, Margaretenhof 10 in 45888 Gelsenkirchen statt.

Vom Klassenkompromiss zum Krieg

VSA-Verlag, Hamburg. 252 S., EURO 19,80

VSA-Verlag, Hamburg. 252 S., EURO 19,80

Eine Fülle von Büchern über Hintergründe und Ursachen zum Ersten Weltkrieg, der vor hundert Jahren begann, sind im letzten und vor allem in diesem Jahr erschienen. Das bekannteste darunter, Christopher Clarks „Die Schlafwandler“, wärmt die alte These wieder auf, nach der die europäischen Großmächte in den Krieg hineingestolpert, „geschlafwandelt“ seien und eigentlich niemand den Krieg wirklich gewollt habe. Allen gemeinsam ist der Blick auf die Außenpolitik der europäischen Staaten, auf die gegensätzlichen Interessen in der Kolonialpolitik und auf die sich gegenüberstehenden Bündnispartner Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien einerseits und Frankreich, Russland und Großbritannien andererseits. Im früheren „Verlag zum Studium der Arbeiterbewegung“, der jetzt nur noch unter VSA-Verlag firmiert, ist ein Buch des Publizisten Heiner Karuscheit erschienen, der sich dem Thema anders nähert, als die Mehrzahl der Neuerscheinungen.

Heiner Karuscheits „Deutschland 1914“ beleuchtet die inneren Verhältnisse Deutschlands von der Zeit der Nationalstaatsbildung bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Er setzt mit der gescheiterten bürgerlichen Revolution 1848 an und stellt die Politik Bismarcks ab den 1860er Jahren dar, die mit der Führung der drei für Preußen siegreichen „Einigungskriegen“ zur Bildung des kleindeutschen Nationalstaats 1870/71 unter Ausschluss Österreichs führte. Zentral für die Bismarcksche Politik war die Verbindung der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands mit der Sicherung der Machtposition Preußens in Deutschland und darin die Machtposition des preußischen Militäradels, der seine Basis im ostelbischen Junkertum hatte. Dies geschah durch einen ungeschriebenen „Gesellschaftsvertrag“ zwischen Militäradel/Junker und (National-)liberalen. Die Konstruktion des Deutschen Kaiserreiches bot den demokratischen und liberalen Kräften einen nach allgemeinem Wahlrecht zustande gekommenen Deutschen Reichstag, während der preußische Landtag nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt wurde und der preußische Militäradel seine Machtposition durch die zweite Kammer, dem „Herrenhaus“, ausübte. Da das Land Preußen etwa 2/3 des Staatsgebietes des Deutschen Kaiserreiches umfasste, lässt sich durchaus auch von Preußen-Deutschland sprechen.

Karuscheit stellt die weitere gesellschaftspolitische Entwicklung dar, die unter anderem durch das liberale Interesse an der Kolonial- und „Weltpolitik“ sowie dem Aufstieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften gekennzeichnet war. Gelang es Bismarck noch, den „Gesellschaftsvertrag“ in seinem Sinne zu erhalten und sich durch Neuwahlen Mehrheiten im Reichstag zu sichern, konnten seine Nachfolger die Koalition von Konservativen und (National-)liberalen aus verschiedenen Gründen nicht mehr zusammenhalten. Zwar näherten sich Liberale, Zentrum und Sozialdemokraten einander an, dennoch waren sie in den Jahren vor dem Krieg nicht bereit, über Einzelfragen hinaus zusammenzuarbeiten und das Kaiserreich in eine bürgerliche Demokratie zu verwandeln. Für die bedrohte Machtbasis des preußischen Militäradels bot sich als Ausweg entweder ein Staatsstreich an, für den weder der Kaiser noch der Reichskanzler zu gewinnen war, oder ein Krieg, der ihre Machtbasis erneut wie zur Zeit der „Einigungskriege“ festigen sollte. Hierzu passten sowohl der „blinde Imperialismus des bürgerlichen Lagers“ wie die orientierungslose Position der SPD. Für den Autor handelt es sich beim Ersten Weltkrieg um einen „Krieg zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung“. Die Zustimmung der SPD zu ihm war nach seiner Ansicht kein Verrat, sondern die Folge einer fehlerhaften Gesellschaftsanalyse und Revolutionsstrategie.

„Deutschland 1914“ ist eine interessante, gut lesbare und kurzweilige Darstellung der Zusammenhänge und Hintergründe von Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg. Vorkenntnisse in der deutschen Geschichte zwischen 1848 und 1914 sind beim Lesen allerdings hilfreich.

Weitere Besprechungen finden sich unter anderem im Deutschlandradio und in der jungen Welt. Über den mir unbekannten Autor ließ sich im Internet recherchieren: geboren 1944, lebt heute in Gelsenkirchen. Von 1969 bis 1970 war er im SDS (ursprünglich der SPD-nahe Sozialistische Deutschen Studentenbund) und von 1970 bis 1975 im KSV (Studentenverband der KPD-Aufbauorganisation) aktiv. Seit 1976 veröffentlicht er Aufsätze über linke Politik der K-Gruppen, im „Verlag Theoretischer Kampf“ (VTK) und in den „Aufsätzen zur Diskussion“ (AzD), die zuerst 1979 „in Frankfurt und Gelsenkirchen“ herausgegeben wurden.

Der Rosa-Luxemburg-Club Gelsenkirchen plant in diesem Jahr eine Veranstaltung mit ihm zum Thema des Buches.

Antikriegstage in Gelsenkirchen

Kundgebung auf dem Preuteplatz zum Antikriegstag 2014

Kundgebung auf dem Preuteplatz zum Antikriegstag 2014 – Foto: Lina

In über 100 Städten fanden am 1. September 2014 Aktionen zum internationalen Antikriegstag bzw. Weltfriedenstag statt. In Gelsenkirchen fanden sogar gleich zwei Veranstaltungen statt – leider fast gleichzeitig.

Nach Jahren rief der Gelsenkirchener DGB mal wieder zu einer eigenen Veranstaltung auf. Angesichts von antisemitischen Ausfällen in jüngster Zeit, angefeuert durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen, wählte der Deutsche Gewerkschaftsbund in Gelsenkirchen bewusst den Platz an der Alten Synagoge für seine Kundgebung. Über diese Veranstaltung kann ich nichts berichten, da ich an der anderen Veranstaltung teilgenommen habe, und verweise auf Bericht und Fotos in der Online-Ausgabe der Gelsenkirchener WAZ sowie auf einen früheren Beitrag hier.

Zum vierten Mal seit 2011 hatte ein Antikriegstagsbündnis von Einzelpersonen aus linken Parteien in Gelsenkirchen (MLPD/AUF, DKP, Die Linke) sowie aus der VVN-BdA zu einer schon kleinen Tradition gewordenen Kundgebung aufgerufen. Zwischen 17.30 und 18.30 Uhr wechselten sich Reden auf dem Preuteplatz mit musikalischen und literarischen Beiträgen ab, die unterschiedliche Gesichtspunkte anlässlich des Jahrestages der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland vor nunmehr 75 Jahren vorbrachten. Da es sich um ein Personenbündnis mit unterschiedlichen politischen Positionen handelt, waren die Inhalte der Beiträge natürlich auch unterschiedlich. Selbstverständlich bildete die Situation in der Ukraine ein wichtiges Thema, aber auch Krieg und Frieden allgemein wurden thematisiert.

Im Unterschied zu den früheren Jahren zog der sich anschließende Demonstrationszug nicht zum Mahnmal gegen den Faschismus im Stadtgarten, sondern zu einem fast vergessenen und ziemlich zugewachsenen Denkmal am Grillo-Gymnasium, welches an die 71 Gefallenen eines Turnvereins im Ersten Weltkrieg erinnert. Anlass war der hundertste Jahrestag des Beginns dieses Weltkrieges. Hier wurde das Thema Erster Weltkrieg stärker in den Vordergrund gerückt, das alte Denkmal mit einem übergroßen Portrait von August Bebel sowie einem temporären Denkmal für den unbekannten Deserteur beider Weltkriege überformt und in Reden darauf Bezug genommen.

Die Veranstaltung endete nach 19 Uhr, etwa zum gleichen Zeitpunkt, wie die Veranstaltung des DGB Gelsenkirchen. So gut ich es finde, dass der DGB in Gelsenkirchen wieder zum Antikriegstag aufruft, so schade finde ich die zeitliche Überlappung. Ich hätte als überzeugter Gewerkschafter gerne auch die Veranstaltung des Gewerkschaftsbundes besucht. Vielleicht ist ja im nächsten Jahr eine zeitliche Absprache möglich, vielleicht war es aber auch nur eine einmalige Aktion des DGB anlässlich der runden Jahrestage.

Im Berliner Reichstagsgebäude wurden übrigens an diesem 1. September, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, keine Kriegskredite bewilligt, wohl aber Waffenlieferungen an kurdische Milizen im Irak mit den Stimmen von CDU und SPD zugestimmt. Auch eine Art, diesen Jahrestag zu begehen.

Ganz ungewöhnliche Soldaten

Temporäres Denkmal für den unbekannten Deserteur am Antikriegstag 2014

Temporäres Denkmal für den unbekannten Deserteur am Antikriegstag 2014

Rede zum Antikriegstag am 01.09.2014 vor dem Denkmal am Grillo-Gymnasium

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Genossinnen und Genossen,
sehr geehrte Damen und Herren,

wir erinnern am heutigen Antikriegstag gleich an zwei Weltkriege, in denen Deutschland eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Vor 75 Jahren, am 1. September 1939 entfesselte Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg, der bis 1945 mit einer unglaublichen Zerstörungswucht auf Deutschland zurückfiel und die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland weitgehend verdrängt hat.

Doch während man in Deutschland, wie gestern in unserer Nachbarstadt Herne eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärfen muss, finden in unseren westlichen Nachbarländern Belgien und Frankreich auch heute noch Bauern nicht explodierte Munition und menschliche Überreste aus dem dort so bezeichneten „Großen Krieg“.

Der Erste Weltkrieg begann vor 100 Jahren am 1. August 1914 mit der Kriegserklärung des Deutschen Kaiserreiches an das russische Zarenreich. Am 2. August 1914 besetzten Deutsche Truppen das neutrale Luxemburg und am 4. August 1914 begann der deutsche Überfall auf das neutrale Belgien.

Die deutschen Truppen drangen bis nach Nordostfrankreich vor, wo sich die gegnerischen Armeen eingruben und vier Jahre lang in Schützengräben gegenüberstanden und mit zu ihrer Zeit modernsten Waffen, mit Artillerie, mit Maschinengewehren, mit Handgranaten, mit Gas unglaubliche Zerstörungen anrichteten.

Auf verschiedenen Kriegsschauplätzen der Welt, in Belgien und Nordfrankreich, in Polen und Russland, auf dem Balkan und am Bosporus, im Nahen und Mittleren Osten, im Kaukasus, in Norditalien, in den afrikanischen Kolonien, zu Wasser, zu Lande und in der Luft kämpften schließlich 40 Nationen mit zusammen fast 70 Millionen Soldaten.

17 Millionen Soldaten fanden den Tod.

Sind sie einen Heldentod gestorben, wie es die nationalen Mythen der Krieg führenden Nationen so gerne sehen?
Nein!
Ihr Tod war kein Heldentod.
Der Krieg war ein sinnloses Massensterben, die Soldaten starben in sinn- und nutzlosen Materialschlachten eines durchindustrialisierten Krieges.

Es gab viele, die diesen sinnlosen Tod nicht wollten, sondern die leben wollten.

Weihnachten 1914 verbrüderten sich gegnerische Soldaten für kurze Zeit im sogenannten „Weihnachtsfrieden“, tauschten im Niemandsland zwischen den Schützengräben Geschenke mit den Soldaten der Gegenseite aus und sangen gemeinsam Weihnachtslieder.

Immer wieder gab es an den Fronten stillschweigende Vereinbarungen, nicht oder nur in ritualisierter Form aufeinander zu schießen.

Soldaten fügten sich Verletzungen oder Krankheiten zu oder simulierten deren Symptome um dem Krieg zu entkommen.

Dann gab es jene Soldaten, die ganz konsequent mit dem Militär brachen und sich durch sogenannte „Fahnenflucht“ entzogen. Schätzungen zufolge gab es auf deutscher Seite hunderttausend Deserteure während des Ersten Weltkrieges.
Sie waren nicht kriegsentscheidend, ihre Motive waren sehr unterschiedlich und sie waren sicherlich auch keine selbstlosen Helden.

Aber sie waren auch keine gewöhnlichen Soldaten, sondern Menschen, die sich für das Leben entschieden und gegen den Tod.

Ihnen wird selten gedacht, obwohl auch sie mutig sein mussten. Natürlich machten sie sich strafbar, nicht nur durch die Desertion, sondern auch durch die Verwendung gefälschter Papiere, durch Diebstahl von Nahrungsmitteln oder Geld. Doch was bedeuten Urkundenfälschung und Diebstahl im Vergleich zum Töten von Menschen, die man nicht kennt und die einem nichts getan haben?

Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges wollen wir heute an jene ganz ungewöhnlichen Soldaten erinnern, die NEIN zum Krieg sagten. Die sich für das Leben und gegen den Tod entschieden haben.

Wir tun dies hier mit einem temporären Denkmal.

Unser temporäre Denkmal besteht aus Pappe, Farbe und etwas Holz. Das Denkmal zeigt uns einen einzelnen Mann, denn Deserteure waren Einzelgänger.
Dieser Mann läuft, er läuft weg vor dem Krieg und läuft weg vor dem Tod. Er läuft zu auf das Leben. Und er freut sich, er freut sich, dass er dem Krieg und dem Tod entronnen ist.

Es handelt sich hier um einen Holzschnitt des belgischen Künstlers, Internationalisten und Pazifisten Frans Masereel aus dem Jahre 1919.
Genauer: um einen maßstäblich vergrößerten Ausschnitt.

Frans Masereel wurde in den 1920er Jahren berühmt durch sein pazifistisches und sozialkritisches Engagement. Er drückte sich in dieser Zeit künstlerisch mit expressionistischen Holzschnitten und Holzschnittzyklen aus.

1889 in Belgien geboren, verbrachte er mehrere Jahre in Deutschland, Frankreich, England und Tunesien. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges kehrte er aus der Bretagne nach Belgien zurück, flieht jedoch vor den vormarschierenden deutschen Truppen.
In der Schweiz arbeitet er ehrenamtlich für das Rote Kreuz und veröffentlicht grafische Beiträge in Zeitschriften, über tausend gegen Krieg und gegen soziale Ungerechtigkeit.

Nach dem Krieg wird er mit seinen eindrucksvollen und emotionalen Holzschnittzyklen und weiteren Kunstwerken in vielen Ländern Europas, auch in der Sowjetunion, die er 1935 und 1937 bereist, berühmt.

1940 flieht er abermals vor den deutschen Truppen, dieses Mal aus Paris nach Südfrankreich. Er hält die Eindrücke auf der Flucht in zahlreichen Zeichnungen fest.
Wie auch im Ersten Weltkrieg engagiert er sich wieder mit seiner künstlerischen Arbeit gegen den Krieg und gegen die Unmenschlichkeit.

Wir gedenken heute mit diesem temporären Denkmal nach einem Holzschnitt von Fans Masereel dem unbekannten Deserteur beider Weltkriege.

Vielen Dank!