Archiv der Kategorie: Faschismus

Faschismustheorie als Werkzeug für die Gegenwart

Veröffentlichungen zu Faschismustheorien 2020.

Faschismus wurde und wird immer wieder als Kampfbegriff zur Kennzeichnung des politischen Gegners benutzt, ohne das in jedem Fall klar wird, worauf sich die Beurteilung als faschistisch stützt. Zugleich gibt es bis heute keine allgemeingültige Definition, was Faschismus ist. Zwei 2020 erschienene Publikationen beschäftigen sich aus linker Sicht mit dem Thema und zeigen, wie die verschiedenen Theorien und Erscheinungsformen für die Gegenwart als Werkzeug der Erkenntnis nutzbar gemacht werden können.

Mathias Wörsching, Berliner Historiker und Politologe, der auch die Webseite faschismustheorie.de betreibt, gibt mit seinem in der Reihe theorie.org des Schmetterling Verlags erschienenen Werk „Faschismustheorie“ einen Überblick über die im Laufe der Jahrzehnte entwickelten relevanten Faschismustheorien. Es handelt sich um eine sehr nützliche Darstellung, die unterschiedliche Sichtweisen auf den Faschismus und deren Entstehungshintergrund zeigt. Neben historischen und marxistischen Faschismustheorien referiert er auch die jüngeren angelsächsischen Theorien von Griffin und Paxton. So nutzt er am Schluss Paxtons Phasenmodell, um die Stärken und Schwächen der verschiedenen Theorien einzuschätzen. Paxton sieht Faschismus als sozialen Prozess mit den einzelnen Phasen Initiation, Aufschwung, Machtübernahme, Machtausübung, Radikalisierung oder Entropie (Rückbildung). Nach seiner Auffassung ist die politische Gefahr des Faschismus keineswegs überwunden, auf einer ersten Stufe existiere er auch heute in allen größeren Demokratien.

Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellten Alexander Häusler und Michael Fehrenschild, beides Mitarbeiter von FORENA, dem Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus/Neonazismus der Hochschule Düsseldorf, eine Studie zur Bedeutung des Faschismusbegriffs, die in der Reihe Manuskripte unter dem Titel „Faschismus in Geschichte und Gegenwart“ und mit dem Untertitel „ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs“ erschienen ist. Neben einer inhaltsreichen Arbeitsdefinition thematisieren sie insbesondere die länderspezifischen Entwicklungen in Italien, Deutschland, Österreich und Ungarn sowie die Fragen der Abgrenzungen zwischen einem allgemeinen (generischen) Faschismusbegriff und dem Nationalsozialismus bzw. der Rechtsextremismusforschung. Besonders wertvoll wird die Studie in meinen Augen durch die im Anhang abgedruckten Interviews mit Faschismus-Experten, die beinahe die Hälfte des Buchumfangs ausmachen und zu denen auch die Redaktionen der Zeitungen „der rechte rand“ und „Lotta“ gehören.

Aufmerksam wurde ich auf beide Veröffentlichungen durch einen Artikel in der „Lotta“ #80 vom Herbst 2020. Dort findet sich unter der Überschrift „Was ist Faschismus?“ ein Interview mit Mathias Wörsching und Alexander Häusler. Weiterhin empfehlenswert ist m.E. auch die 2012 bei PapyRossa erschienene Darstellung „Faschismus“ von Guido Speckmann und Gerd Wiegel, die zu einer engen Auslegung des Faschismusbegriffs rät und vor einer inflationären Verwendung des Begriffs warnt, einer Position, der ich nur zustimmen kann.

Literatur
Häusler, Alexander/Fehrenschild, Michael: Faschismus in Geschichte und Gegenwart. Ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs = Rosa-Luxemburg-Stiftung. Manuskripte 26, Berlin 2020 (auch als Online-Publikation)
Speckmann, Guido/Wiegel, Gerd: Faschismus, Köln 2012
Wörsching, Mathias: Faschismustheorien. Überblick und Einführung = theorie.org, Stuttgart 2020
„Was ist Faschismus?“ Ein Gespräch mit Mathias Wörsching und Alexander Häusler. Das Interview führte Pia Gomez, in: Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, #80, Herbst 2020, Seiten 4-6

Erinnerungsorte auf dem Horster Süd-Friedhof

Am 9. November 2003 übergab der damalige Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) im Rahmen der jährlichen Gedenkfeier der Demokratischen Initiative (DI) die Informationstafel der Öffentlichkeit, die den anonymen Opfern ihren Namen wiedergibt.

In diesem Jahr jähren sich zum 75. Mal die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 und die Befreiung Europas vom Faschismus am 8. Mai 1945 sowie zum 100. Mal der Kapp-Putsch vom 13. März 1920 und die darauffolgende Märzrevolution 1920. Auf dem Friedhof Horst-Süd befinden sich drei Denkmale aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die an die Ereignisse erinnern. Die Fotos entstanden im Rahmen der Antifaschistischen Stadtrundfahrt, die Die Linke am 26. Januar 2020 im Rahmen der Aktionswochen zum Holocaust-Gedenktag des Gelsenkirchener Aktionsbündnisses gegen Rassismus und Ausgrenzung durchführte.

Wie überall in Nazi-Deutschland wurden auch in Gelsenkirchen an vielen Orten sowjetische Kriegsgefangene und andere Sowjetbürgerinnen und -bürger Opfer der faschistischen Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik (siehe zum Beispiel hier, hier und hier). Auf dem Gelände des in der Nacht vom 12./13. Juni 1944 stark beschädigten Jüdischen Friedhofs der Horster Juden aus dem Jahre 1920 wurden Massengräber angelegt, in denen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion beerdigt wurden, die zum Beispiel auf der Zeche Nordstern oder im Hydrierwerk der Gelsenberg Benzin AG Zwangsarbeit leisten mussten. Nach Kriegsende wurden hierhin weitere sowjetische Tote umgebettet. Auf Veranlassung des Alliierten Kontrollrates, der die Regierungsgewalt nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands übernommen hatte, wurde der Gedenkstein aufgestellt, der in kyrillischer Schrift an die 884 sowjetische Bürger erinnert, „die in der faschistischen Gefangenschaft in der Zeit von 1941 bis 1945 umgekommen sind“. Die genaue Zahl war erst 1970 nachgetragen worden.

Grabstätte für sowjetische Zwangsarbeiter aus der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Zu den kriegswichtigen Betrieben gehörte die Gelsenberg Benzin AG (heute BP). 1936 als Tochtergesellschaft der Gelsenkirchener Bergwerks-AG gegründet, lieferte es ab Sommer 1939 Benzin mit Kohle aus der Schachtanlage Nordstern 3/4. Während des alliierten Luftangriffs vom 13. Juni 1944 wurde das Hydrierwerk so schwer getroffen, dass die Produktion gestoppt wurde. Für die Beseitigung der Schäden wurde eines der vielen Außenlager des KZ Buchenwald eingerichtet. Mit etwa 2000 ungarische Jüdinnen, die nach der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 zuerst ghettoisiert und nach Auschwitz deportiert worden waren, wurde das KZ-Außenlager am 4. Juli 1944 errichtet. Untergebracht waren sie nördlich des Linnenbrinksweg auf dem Betriebsgelände des Werkes in Zelten in einem mit Stacheldraht umzäunten und von Wachtürmen umgebenen Lager. Die Mädchen und Frauen mussten bei karger Ernährung 12 Stunden täglich harte körperliche Zwangsarbeit verrichten.

Grab und Mahnmal KZ Buchenwald Außenlager Gelsenberg (1948).

Bereits im August wurden 520 Frauen in ein weiteres Buchenwalder KZ-Außenlager in der Essener Humboldtstraße für die Zwangsarbeit in den Krupp-Walzwerken selektiert. Am 11. September 1944 wurden die hier verbliebenen Frauen Opfer eines weiteren Luftangriffs auf das Hydrierwerk, dabei kamen etwa 150 ums Leben und etwa 100 weitere von ihnen wurden verletzt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass den jüdischen Frauen der Zutritt zu den Schutzbunkern verboten war und sie dem Bombenhagel schutzlos ausgeliefert waren. Das Lager wurde schließlich am 14./15. September 1944 aufgelöst und die Frauen für die Firma Rheinmetall Borsig AG nach Sömmerda in Thüringen deportiert. Im Marien-Hospital in Gelsenkirchen-Rotthausen konnten dank des Einsatzes des Chefarztes Dr. Rudolf Bertram und mit Hilfe von Krankenschwestern und Unterstützern 17 schwerverletzte Frauen vor der Gestapo versteckt werden und erlebten so die Befreiung vom Faschismus.

Am 16. September 2018 wurde das Mahnmal mit einer Skulptur ergänzt, die von angehenden Steinmetzen des Hans-Schwier-Berufskollegs Gelsenkirchen erarbeitet und gefertigt worden war.

Die sterblichen Überreste der ums Leben gekommenen Frauen wurden zunächst auf dem Lagergelände verscharrt, am 14. Juli 1948 wurde hier durch das jüdische Hilfskomitee der Gedenkstein aufgestellt. In den 1950er Jahren wurde das Mahnmal auf den Horster Süd-Friedhof verlagert und die sterblichen Überreste der Frauen umgebettet. Am 9. November 2003 übergab der damalige Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) im Rahmen der jährlichen Gedenkfeier der Demokratischen Initiative (DI) die Informationstafel der Öffentlichkeit, die den anonymen Opfern ihre Namen wiedergibt. Am 16. September 2018 wurde das Mahnmal mit einer Skulptur ergänzt, die von angehenden Steinmetzen des Hans-Schwier-Berufskollegs Gelsenkirchen erarbeitet und gefertigt worden war. Aus Anlass des 75. Jahrestages der Selbstbefreiung des KZ Buchenwalds wird die VVN-BdA NRW gemeinsam mit ihren Kreisvereinigungen am 18./19. April 2020 Veranstaltungen an mehreren Außenlagern des KZ Buchenwalds an Rhein und Ruhr durchführen.

Das sogenannte „Kapp-Putsch-Mahnmal“, 1947/48 von der VVN errichtet, hier in sehr schlechtem Zustand.

An den Arbeiterwiderstand gegen den Faschismus des Jahres 1920 und der Jahre 1933 bis 1945 erinnert schließlich das 1947/48 von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) errichtete Denkmal. Es wird vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) – nicht überraschend – als „Kapp-Putsch-Mahnmal“ bezeichnet. Tatsächlich erinnert es erneut an die 1920 im Anschluss an den Kapp-Putsch von rechtsradikalen Freikorps ermordeten Mitglieder der „Roten Ruhrarmee“ (das ursprüngliche Denkmal war von den Nazis zerstört worden) und an Horster Widerstandskämpfer 1933-1945, insbesondere der Franz-Zielasko-Gruppe. Eine jährliche Gedenkveranstaltung an die Märzrevolution 1920 führen hier seit Jahren MLPD & Freunde durch, in diesem Jahr ist anlässlich der 100. Jahrestages eine gemeinsame Veranstaltung von DKP, Die Linke und MLPD geplant. Details liegen noch nicht vor.

Quellen und weiterführende Informationen
https://www.gelsenkirchener-geschichten.de/wiki/Friedhof_Horst-Süd
http://www.gelsenzentrum.de/gelsenberg_lager.htm
https://www.lokalkompass.de/gelsenkirchen/c-kultur/das-kz-aussenlager-buchenwald-in-gelsenkirchen-horst_a88752

Besuch des niederländischen Befreiungsmuseums Groesbeek

„Nationaal Bevrijdingsmuseum 1944-1945“ Groesbeek. Blick in die Ausstellung.

Aus niederländischer Sicht thematisiert das „Nationaal Bevrijdingsmuseum 1944-1945“ im nahe der deutschen Grenze gelegenen Groesbeek die Zeit der Besetzung durch Nazi-Deutschland und die Befreiung in den Jahren 1944/45 durch alliierte Truppen. Neben der Dauerausstellung beherbergt das Museum derzeit eine Sonderausstellung zum kommunistischen Widerstand. Organisiert von der VVN-BdA Düsseldorf besuchten wir mit etwas über 20 Personen am Sonntag, 7. Oktober 2018 das Museum. Es wird in hohem Maße durch ehrenamtliche Helfer betreut. Zwei von ihnen führten uns durch die Ausstellung und teilten dabei auch sehr persönliche Ansichten mit.

Das Museum zeigt in vielfältigen Ausstellungsstücken und medialen Darstellungen anschaulich die Geschichte der Vorkriegszeit mit der niederländischen Sicht auf Nazi-Deutschland, die Zeit der Besetzung der Niederlande und schließlich der Befreiung in den Jahren 1944/45 mit ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung. Die Ausstellung ist um hohe Anschaulichkeit bemüht und will durch die Beschäftigung mit der Geschichte die aktuelle Bedeutung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zeigen. Die Beschriftung ist dreisprachig, niederländisch, englisch und deutsch. Die Farbe rot kennzeichnet den Ausstellungsteil zur Besatzungszeit, die Farbe blau den Teil der Ausstellung, der die Zeit der Befreiung in den Jahren 1944/45 zeigt.

„Nationaal Bevrijdingsmuseum 1944-1945“ Groesbeek. Anschauliche Darstellung des Kriegsverlaufs.

Erstmalig erfuhr ich hier von der militärischen Operation „Market Garden“. Mittels einer groß angelegten Luftlandeoperation kombiniert mit einem Vorrücken der Landstreitkräfte versuchten die westlichen Allierten, die nach der Landung in der Normandie im Juni 1944 bereits weit nach Westen vorgedrungen waren, ab dem 17. September 1944 die Brücken über die Wasserstraßen im Südosten der Niederlande einzunehmen. Rund um Groesbeek und Nimwegen landeten dabei etwa 8.000 amerikanische Fallschirmjäger. Doch war die Aktion nur teilweise erfolgreich, erst mit der großen Rheinlandoffensive im Februar 1945 gelang im weiteren Verlauf des Krieges die Befreiung der Niederlande.

„Nationaal Bevrijdingsmuseum 1944-1945“ Groesbeek. Sonderausstellung zum kommunistischen Widerstand.

Neben der Dauerausstellung besuchten wir auch die aktuelle Sonderausstellung, die sich mit dem kommunistischen Widerstand gegen die deutsche Besetzung beschäftigte. Die Kommunistische Partei der Niederlande (CPN), die heute im politischen Leben unseres Nachbarlandes keine Rolle mehr spielt, unterstützte bereits in den 1930er Jahren den Widerstand in Deutschland und wandelte sich mit der Besetzung durch Nazi-Deutschland in eine Widerstandsorganisaion. Die Ausstellung stellt anschaulich die Geschichte des Widerstands und der Zeit nach 1945 dar. Nach einem kurzen Aufschwung verlor die CPN angesichts des Antikommunismus im Kalten Krieg und durch die Parteinahme für die Unabhängigkeit der Kolonie Niederländisch-Indien an Bedeutung.

„Nationaal Bevrijdingsmuseum 1944-1945“ Groesbeek. Sonderausstellung zum kommunistischen Widerstand mit dem Beispiel der Hannie Schaft.

Die Sonderausstellung ist noch bis zum 28. Oktober 2018 zu sehen.

„Verbrechen der Wirtschaft“ im „Roten Freitag“

Buchveröffentlichung des RuhrEcho-Verlags, Bochum.

Kenntnisreich und anschaulich stellte Günter Gleising (VVN-BdA Bochum) heute im „Roten Freitag“ der Gelsenkirchener Linkspartei seine Buchveröffentlichung vor. Buch und Vortrag zeigen die Interessen der Schwerindustriellen und Ruhrbarone an der Errichtung der Nazi-Diktatur, der Ausschaltung der Demokratie und der Rüstungspolitik. Im Anschluss führten die Besucher noch eine lebhafte Diskussion über die Inhalte des Vortrags und ihre Übertragbarkeit auf die Gegenwart.

Ausgehend von der Fragestellung, wie es der NSDAP gelingen konnte, innerhalb weniger Jahre von einer Splittergruppe zur einflussreichsten Kraft Deutschlands zu werden, zeigte Günter Gleising die Unterstützung, die Hitler und seine Partei durch führende Industrielle genoss. Begünstigt wurde die Machtstellung der Wirtschaft durch eine beispiellose Konzentration der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die Krupp, Thyssen, Flick und anderen einen außerordentlichen Einfluss gab. Günter Gleising berichtete, dass er seit über 20 Jahre an diesem Thema arbeitet und unter anderem auf Quellen zurückgreift, die kurz nach 1945 von den Alliierten zusammengestellt wurden. Beispiele aus Gelsenkirchen rundeten den Vortrag ab.

In der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion ging es um viele Einzelfragen, aber auch um die Bedeutung für die Gegenwart verbunden mit der Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung der NSDAP und der Entwicklung der AfD. Natürlich war die Zeit wie immer zu knapp für eine ausführliche Diskussion, eine Fortsetzung würde sich sicher lohnen.

Der „Rote Freitag“ ist eine Veranstaltungsreihe im Werner-Goldschmidt-Salon, dem nach dem Gelsenkirchener Antifaschisten benannte Veranstaltungsort der Die Linke. „Verbrechen der Wirtschaft“ war eine Kooperationsveranstaltung der Die Linke mit der Gelsenkirchener VVN-BdA.

Werner-Goldschmidt-Salon – Parteibüro von Die Linke und Veranstaltungsort, benannt nach dem Gelsenkirchener und jüdischen Widerstandskämpfer Werner Goldschmidt.

Wirtschaftsführer und Kriegsgewinnler

Buchveröffentlichung des RuhrEcho-Verlags, Bochum.

„Verbrechen der Wirtschaft“ von Günter Gleising zeigt Anteil und Interesse der Ruhrbarone und von führenden Industriellen Deutschlands an der Errichtung der Nazi-Herrschaft, an der Aufrüstungs- und Kriegspolitik und der Ausplünderung der eroberten Gebiete. Das Kriegsende 1945 bedeutete für ihre Geschäfte nur eine kurze Unterbrechung, die bald wieder florierten.

Günter Gleising, Mitglied der VVN-BdA Bochum, stellt deutlich die Interessen der wirtschaftlichen Elite der Weimarer Republik dar, die gegen Republik, Betriebsräte und Gewerkschaften und für die Wiederaufrüstung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg standen. Ausgehend von der Fragestellung, wie es der NSDAP gelingen konnte, innerhalb weniger Jahre von einer Splittergruppe zur einflussreichsten Kraft Deutschlands zu werden und wie es Nazi-Deutschland innerhalb von sechs Jahren gelingen konnte, halb Europa mit Krieg zu überziehen, zeigt er die Unterstützung, die Hitler und seine Partei durch führende Industrielle genoss.

Begünstigt wurde die Machtstellung der Wirtschaft durch eine beispiellose Konzentration der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, die Krupp, Thyssen, Flick und anderen einen außerordentlichen Einfluss gab, während gleichzeitig die katastrophalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die kleinen Leute abgewälzt wurde. Das Interesse der Wirtschaftsführer an der Beseitigung aller demokratischen und humanistischen Hemmnisse, die ihrem Gewinnstreben entgegenstanden, traf sich mit Hitlers politischem Programm und Politik.

Gleising belegt anhand zahlreicher Dokumente, wie Hitler und die NSDAP ab 1925 ihre Macht ausbauen und dabei durch führende Industrielle unterstützt wurden, bis ihm am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg die Kanzlerschaft angetragen wurde. Mit der Machtübertragung an die Nazis begann für die Konzerne wieder das große Geschäft: Rüstungsaufträge, Arisierungen, Ausplünderung eroberter Gebiete und Sklavenarbeit bildeten das Geschäftsmodell, dass Gleising anhand zahlreicher Beispiele aus Bochum und den Nachbarstädten zeigt.

Bei allem Lob für die Veröffentlichung darf eine Kritik an der faktenreichen Darstellung nicht fehlen: gelegentlich hat man als geneigter Leser den Eindruck, von der Vielzahl der Fakten schier erschlagen zu werden ohne die Gelegenheit zu bekommen, beim Lesen innezuhalten. Trotzdem gibt es eine klare Empfehlung für dieses Buch, das sich nahtlos in die Spurensuche und Kennzeichnung der Tatorte der „Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945“ der VVN-BdA NRW einfügt und weit darüber hinausweist.

Lesenswert ist „Verbrechen der Wirtschaft“ auch nicht nur als historische Darstellung. In seinem Vorwort erinnert Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA daran, dass die Ministerin Andrea Nahles 2016 aus dem Armutsbericht der Bundesregierung einen Satz streichen ließ, der den Einfluss der Reichen auf die Politik zeigt. Trotzdem – eine Binsenweisheit – besteht dieser Einfluss 1933 wie heute. Günter Gleisings „Verbrechen der Wirtschaft“ zeigt am historischen Beispiel, was zuviel Macht auf der Kapitalseite anrichtet. So ist aus dieser Geschichte zu lernen, dass und warum sie sich nicht wiederholen darf.

Gleising, Günter: Verbrechen der Wirtschaft. Der Anteil der Wirtschaft an der Errichtung der Nazidiktatur, der Aufrüstungs- und Kriegspolitik im Ruhrgebiet 1925-1945, RuhrEcho Verlag, Bochum, 2017, 267 Seiten, 18 Euro

„Das zweite Trauma“ über ein ungesühntes Massaker – in der Flora aufgeführt

„Das zweite Trauma“ ist ein Dokumentarfilm von Jürgen Weber über eines der vielen Massaker, die deutsche Soldaten, mal in Wehrmachts-Uniform, mal als Waffen-SS, während des Zweiten Weltkrieges verübten. In Sant’Anna di Stazzema, einem kleinen Dorf in den Bergen der nördlichen Toskana, wurden am 12. August 1944 rund 560 Zivilisten, überwiegend Frauen und Kinder, von Einheiten der Waffen-SS auf zum Teil unvorstellbar grausame Weise ermordet. Das Kriegsverbrechen wurde auch nach 1945 sowohl in Italien wie in Deutschland lange Zeit „beschwiegen“.

Die für Gelsenkirchener Verhältnisse gut besuchte Filmvorführung fand am 17.10.2017 in der Flora statt. Über dreißig Besucher aus verschiedenen Altersgruppen besuchten die von Gelsenzentrum e.V. organisierte, gemeinsam mit der VVN-BdA durchgeführte und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Veranstaltung. Im 2016 uraufgeführten Film erzählen Überlebende wie Enrico Pieri und Enio Mancini, die als Kinder den Leichenbergen ihrer Eltern, Freunden und Verwandten entstiegen waren, ihre bedrückenden Erlebnisse. Eingebettet sind die Erinnerungen, denen der Film einen breiten Raum gibt, in Aufnahmen der romantischen Berglandschaft, historischen Aufnahmen und Aufnahmen der Gedenkstätte. Der Film thematisiert auch die fehlende juristische Aufarbeitung, die erst spät ab 2002 in Italien begann und in Deutschland nicht stattfand. Keiner der Mörder wurde in Deutschland angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt. 2015 wurde das letzte Verfahren in Deutschland eingestellt.

Jürgen Weber, Journalist und Regisseur aus Konstanz am Bodensee und ebenfalls Mitglied der VVN-BdA, stand im Anschluss an den Film noch für Fragen aus dem Publikum bereit. Das Publikum beteiligte sich mit zahlreichen Fragen, Anmerkungen und Wortbeiträgen. Auf die Frage, warum er diesen Film gemacht habe, erzählte er von seiner langjährigen Beschäftigung mit den italienischen Partisanen. Den Anstoss gab die Begegnung mit den Überlebenden des Massaker und – letztendlich – der Besuch des Bundespräsidenten Gauck, der 2013 behauptet hatte, der Rechtsstaat habe keine geeigneten Mittel um Gerechtigkeit herzustellen. Der Film nimmt diese Aussage zu Beginn auf und gibt eine völlig andere Antwort auf diese Frage als Gauck.

In seinen einleitenden Worten stellte Knut Maßmann für die VVN-BdA die Veranstaltung in den aktuellen Kontext der Äußerungen des AfD-Politikers Gauland, der ein Recht darauf einforderte, wie andere Nationen auch stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in beiden Weltkriegen zu sein. Diese Veranstaltung ist auch eine Antwort darauf.

„Das zweite Trauma“ wurde 2017 in seiner italienischen Fassung „Il secondo trauma“ in Sant’Anna di Stazzema aufgeführt. Beide Sprachfassungen sind auch als Kinofassungen für Programmkinos und Kommunale Kinos erhältlich, der Kinoverleih wird von Querwege betrieben. Seit kurzem gibt es auch eine didaktische Fassung für den Einsatz in Schulen.

Geschichte und Gegenwart – Eindrücke aus Lodz und Kulmhof

Zum dritten Mal reiste ich mit dem DGB-Bildungswerk NRW an Erinnerungsorte, zum zweiten Mal ging es nach Polen. Besuchten wir im Rahmen eines Studienseminars 2014 Orte in Belgien und Nordfrankreich, die an die Schrecken des Ersten Weltkrieges im Westen erinnerten, fuhren wir 2015 nach Warschau und Treblinka zu Orten, die an Nazi-Terror und Zweiten Weltkrieges erinnerten. In diesem Jahr standen vom 28.08. bis 02.09.2016 die Stadt Lodz, von den Nazis während der Besetzung in Litzmannstadt umbenannt, und das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno on Ner) auf dem Programm. Zugleich bot der Besuch in Lodz die Erkundung einer ehemals multikulturellen Stadt mit einer an das Ruhrgebiet erinnernden Industriegeschichte, die in einen aus dem Ruhrgebiet bekannten Strukturwandel mündete. Für die Organisation sorgte wie im vergangenen Jahr Hartmut Ziesing Bildungs- und Studienreisen.

Darstellung in der Ausstellung der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Die Darstellung in der Ausstellung der Gedenkstätte Bahnhof Radegast zeigt die Eroberung und Teilung Polens.

Zur polnischen Geschichte gehört die Erfahrung, zwischen übermächtigen Nachbarn erdrückt zu werden. Hierzu gehören nicht nur die drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert, die Polen zwischen dem russischen Zarenreich, dem Königreich Preußen und der Habsburgermonarchie Österreich aufteilten und von der Landkarte verschwinden ließen, sondern auch die Aufteilung des nach dem Ersten Weltkriegs neu entstandenen polnischen Staates 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion. Eine Karte in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast stellt diesen Sachverhalt anschaulich dar. In Bezug auf die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland am 1. September 1939 unterscheidet sich die Erinnerung zwischen Deutschland und Polen. Während in Deutschland eher an den von Nazis gefälschten „Überfall Polens auf den Sender Gleiwitz“ erinnert wird, steht in Polen die Verteidigung der Westerplatte bei Danzig im Mittelpunkt.

Hotel Grand auf der Piotrkowska in Lodz.

Hotel Grand auf der Piotrkowska in Lodz, einer einzigartigen Prachtstraße.

Untergebracht waren wir im Hotel Grand, einem seit 1888 bestehendem eleganten Hotel. Erwarteten die Gäste damals „modern ausgestattete, mit Gas beleuchtete Zimmer mit Sanitäranlagen und transportablen Waschbecken“, so besaßen 1913 „einige Appartements“ bereits elektrische Beleuchtung, Telefon sowie „Waschbecken mit warmem und kaltem Wasser“. In der Gegenwart hat das Hotel noch viel von seinem Charme aus der Vorvorkriegszeit erhalten, trotz Dusche und W-LAN. Das Hotel Grand befindet sich auf der Piotrkowska Straße 72, einer 4,2 km langen einzigartigen Prachtstraße mit einem erhaltenen Ensemble originaler Großstadtarchitektur aus dem 19. Jahrhundert. Da Lodz während des Zweiten Weltkrieges, anders als Warschau, nicht zerstört wurde, sind im Stadtgebiet noch die zahlreichen Villen, Paläste und Industriebauten der im 19. Jahrhundert aufstrebenden Textilindustrie zu sehen. Lodz gehörte seit dem Wiener Kongress 1815 zum Russischen Zarenreich („Kongresspolen“) und war eine multikulturelle und multiethnische Stadt, in der Deutsche, Juden, Polen und Russen lebten und arbeiteten.

Der Palast des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski beherbergt heute ein Museum.

Der Palast des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski beherbergt heute ein Museum.

Im Verlauf der Woche besuchten wir Palast und Fabrikimperium des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski, die heute das Museum der Stadt Lodz bzw. mit der Manufaktura ein postindustrielles Einkaufs- und Unterhaltungszentrum beherbergen, sowie Villa, Fabrikgebäude und Arbeiterviertel des deutschen Fabrikanten Karl Scheibler, in denen sich heute ein Museum der Polnischen Kinematographie bzw. moderne Lofts oder Wohnungen befinden. Lodz war in seiner Glanzzeit nach Warschau die zweitgrößte Stadt Polens, heute ist sie auf den dritten Platz nach Warschau und Krakau gerutscht.

Ghetto Litzmannstadt

Der von Nazi-Deutschland 1939 besetzte Teil Polens wurde teilweise direkt an Deutschland angeschlossen, der Rest als „Generalgouvernement“ verwaltet. Lodz gehörte zu dem Gebiet, das dem Deutschen Reich angeschlossen wurde. Die Stadt befand sich im neu gegründeten Gau Wartheland und wurde in Litzmannstadt umbenannt.

Beispiel für eines der erhaltenen Gebäude des ehemaligen Ghettos.

Beispiel für eines der erhaltenen Gebäude des ehemaligen Ghettos.

Wie auch in Warschau und anderen polnischen Städten sperrten die Nazis die jüdische Bevölkerung in eigenen Wohnbezirken ein, auch die polnische wurde von der deutschen Bevölkerung stadträumlich getrennt. Das 1940 errichtete Ghetto Litzmannstadt umfasste dabei den ärmsten Teil der Stadt. Es handelt sich um das am längsten existierende Ghetto „und zugleich die zweitgrößte Konzentrations- und Zwangsarbeitsstätte für die jüdische Bevölkerung auf polnischem Gebiet“. Anders als in Warschau sind noch zahlreiche Gebäude vorhanden, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar. Ehemalige Synagogen, die in anderen Teilen der Stadt gesprengt wurden, werden heute in anderer Funktion genutzt. Kirchen, die im Ghetto als Lager genutzt wurden, werden heute wieder als Kirche genutzt. Andere Gebäude werden als Wohngebäude genutzt und an ihnen kann man sehen, dass es sich damals wie heute um den ärmeren Teil der Stadt handelt.

Bodendenkmal erinnert wie ein Stolperstein auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.

Bodendenkmal erinnert wie ein Stolperstein auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.

Zu den umstrittenen Personen gehört der von den Nazis eingesetzte Älteste des Judenrates, Chaim Rumkowski. Er setzte darauf, dass sich die Juden des Ghettos durch ihre Arbeitskraft unentbehrlich machten („Unser einziger Weg ist Arbeit!“), gab allerdings dadurch die nichtarbeitsfähigen Kinder, Alten und Kranken der Vernichtung preis. Ende 1942 arbeiteten etwa 80 % der Ghetto-Bevölkerung in 90 Abteilungen, später 95 % in 96 Abteilungen. Im Ergebnis existierte das Ghetto Litzmannstadt am längsten von allen NS-Ghettos. Rumkowski selbst überlebte nicht.

Bahnhof Radegast

Zug der Deutschen Reichsbahn - Ausstellungsstück der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Zug der Deutschen Reichsbahn – Ausstellungsstück der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Die Gedenkstätte Bahnhof Radegast „ist ein im Original erhalten gebliebenes Bahngebäude aus dem Jahre 1941“. Hier wurden Produkte, Lebensmittel und Rohstoffe in das Ghetto und gefertigte Produkte aus dem Ghetto transportiert. Ab Januar 1942 gingen von hier die Transporte in die Vernichtungslager ab. Zur Gedenkstätte gehören eine Dampflok mit Waggons, die an die Deportationen erinnern, eine Ausstellung zum Ghetto Lodz mit einem noch unvollständigen Modell des Ghettos sowie einer weiteren Ausstellung mit Briefen aus dem Ghetto. Neben einer Gedenkwand mit den Namen der Konzentrations- und Vernichtungslager gibt es einen langen Tunnel, der Ereignisse von 1939 bis 1945 und die Deportationslisten zeigt. Träger der Gedenkstätte ist das Museum der Unabhängigkeitstraditionen Lodz.

Gedenkstätte Bahnhof Radegast - Tunnel mit Zeitleiste und Deportationslisten.

Gedenkstätte Bahnhof Radegast – Tunnel mit Zeitleiste und Deportationslisten.

Schmiede der Roma

Im Rahmen des Ghettos wurde 1941/42 ein „Zigeunerlager“ verwaltet, in dem rund 5000 Roma aus dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiet zusammengepfercht worden waren. Die Insassen wurden vom Bahnhof Radegast in das Vernichtungslager Kulmhof gebracht und dort ermordet. Eine Ausstellung in der „Schmiede der Roma“, einem unscheinbaren Gebäude des ehemaligen „Zigeunerlagers“ erinnert an den Völkermord an den Roma unter Berücksichtigung der Geschichte des Lagers.

Modell des ehemaligen "Zigeunerlagers" in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Modell des ehemaligen „Zigeunerlagers“ in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast. Die „Schmiede der Roma“ ist das kleine Gebäude am linken Gebäude.

Vernichtungslager Kulmhof

Kulmhof gehörte zu den Vernichtungslagern, die von den Nazis extra in entlegenen und wenig bevölkerten Gebieten errichtet wurden. Ihr einziger, perverser Zweck war es, Menschen massenhaft zu ermorden. Das Lager wurde in der Zeit von Dezember 1941 bis April 1943 und erneut zur Auflösung des Ghettos Lodz 1944/45 betrieben. Die ersten Opfer stammten aus den Ghettos der umliegenden Städte, später kamen Juden und Roma aus Lodz bzw. weiteren Ländern hinzu. Die Ermordung geschah in LKWs durch Auspuffgase auf dem Weg von einem Gutshaus zu einem etwa 4 km entfernten Wald, wo die Ermordeten in Massengräbern verscharrt wurden. Um die Spuren zu verwischen, wurden die Leichen später wieder ausgegraben und in Krematorien verbrannt. Die Knochen wurden zerkleinert, Asche und Knochenreste erneut vergraben. Auch das Gutshaus wurde gesprengt. Eine ausführliche Beschreibung befindet sich auf deathcamps.org.

Foto aus der Ausstellung der Gedenkstätte Kulmhof, das einen der Gaswagen zeigt, mit deren Auspuffgasen die Ermordung auf dem Weg zum Wald stattfand.

Foto aus der Ausstellung der Gedenkstätte Kulmhof, das einen der Gaswagen zeigt, mit deren Auspuffgasen die Ermordung auf dem Weg zum Wald stattfand.

Heute befindet sich auf dem Gelände um die ausgegrabenen Fundamente des Gutshauses eine Gedenkstätte mit einer Ausstellung. Zu den Besuchern gehören im wesentlichen Gruppen aus Israel oder jüdische Gruppen aus aller Welt, Deutsche Besucher gibt es fast gar nicht. Auf dem Gelände des ehemaligen Waldlagers befinden sich heute verschiedene Denkmale sowie markierte Grabfelder, auf denen die Konzentration von Asche und Knochenreste am größten ist. Eigentlich ist das ganze ehemalige Waldlager ein großer Friedhof.

Gedenkstätte Kulmhof - Waldlager. Im Bild eines von vielen Massengräbern, in denen sich Asche und Knochenreste befinden.

Gedenkstätte Kulmhof – Waldlager. Im Bild eines von vielen Massengräbern, in denen sich Asche und Knochenreste befinden. Den Nazis gelang es nicht, alle Spuren zu beseitigen.

Überleben

Wird an vielen Gedenkorten das Andenken an die Ermordeten gepflegt, so wird im Survivor’s Park an die Überlebenden und im Ehrenhain für die Gerechten unter den Völkern an die Retter erinnert. Im ebenfalls dort gelegenen Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog gab es im Rahmen des Seminars eine Begegnung mit dem Zeitzeugen Leon Weintraub, einem betagten Überlebenden des Ghettos Litzmannstadt. Er lebt in Schweden und war anlässlich der Feierlichkeiten des 72. Jahrestages der Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt nach Lodz gereist. Er erzählte unter anderem von den Zufälligkeiten, die dazu führten, dass man überlebte. Im KZ Auschwitz, wohin er von Litzmannstadt aus transportiert worden war, sah er vor einem Block eine Gruppe nackter Männer, die mit einer Nummer versehen, auf ihre Einkleidung warteten, um zu einem Arbeitseinsatz nach draußen gebracht zu werden. Kurz entschlossen zog er sich ebenfalls aus und stellte sich hinzu; dass ihm keine Nummer eintätowiert worden war, fiel nicht weiter auf. Später stellte sich heraus, dass alle anderen aus seinem Block ermordet worden sind. Er überlebte.

Ausstellung zu Überlebenden des Holocaust, darunter auch Leon Weintraub, im Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog.

Ausstellung zu Überlebenden des Holocaust, darunter auch Leon Weintraub, im Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog.

Spurensuche

Spuren ehemaligen jüdischen Lebens lassen sich natürlich zahlreich auf dem Jüdischen Friedhof finden. Das für mich besondere an diesem Friedhof ist, dass hier viele Gräber orthodoxer Juden bewusst dem Verfall preis gegeben sind. Inzwischen gibt es wieder eine kleine jüdische Gemeinde, so dass auf ihm nach langer Zeit auch wieder neue Bestattungen stattfinden. Doch auch in Lodz selbst lässt sich die eine oder andere Spur finden, wie das folgende Foto zeigt.

Im Hinterhof der Piotrkowska 88 findet sich diese Spur. Wer genau hinschaut, kann den Davidstern erkennen.

Im Hinterhof der Piotrkowska 88 findet sich diese Spur. Wer genau hinschaut, kann den Davidstern erkennen.

Das gelobte Land

Im Rahmen des Seminars besuchten wir die Filmhochschule, die mit Namen wie Roman Polanski und Andrzej Wajda verbunden ist. Von letzterem stammt mit „Das gelobte Land“ ein eindrucksvoller Film über das Lodz des 19. Jahrhunderts. Das in Deutschland bekannte Lied „Theo wir fahr’n nach Lodz“, ein Schlager, gesungen von Vicky Leandros (1974), thematisierte die Landflucht des 19. Jahrhunderts. Auf youtube findet sich ein wundervoller Werbefilm, den die Stadt Lodz 2009 produzieren ließ und der den Text aus dem Jahre 1974 aufnimmt.

Vortrag über Wilhelm Tenholt, GESTAPO-Leitstelle Recklinghausen und Gelsenkirchen 1933-1936

Zeichnung eines Gerichtsreporters von Wilhelm Tenholt während des Verfahrens im Gerichtssaal 1949.

Zeichnung eines Gerichtsreporters von Wilhelm Tenholt während des Verfahrens im Gerichtssaal 1949.

Die Recklinghäuser Leitstelle der Geheimen Staatspolizei zählte zu den brutalsten Verhörorten in Westfalen im „Dritten Reich“. Der Kriminalrat Wilhelm Tenholt war nicht nur überzeugter Nazi und Leiter der Dienstelle, er war auch einer der gefürchtetsten Beamten. Die in sogenannte „Schutzhaft“ genommenen politischen Gegner wurden von ihm misshandelt und gefoltert, für einige Häftlinge endeten die Verhörmethoden tödlich. 1949 wurde Tenholt vor dem Bochumer Landgericht wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt, allerdings kurz vor dem KPD-Verbot mit dem Hinweis, ob man den gefolterten Kommunisten „alles glauben könne“, typischerweise begnadigt.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) wird der Referent Ortwin Bickhove-Swiderski Stationen des beruflichen Werdegangs Tenholts nachzeichnen und anhand eidesstattlicher Zeugenaussagen dessen Verbrechen deutlich machen. Wilhelm Tenholt war schon ab 1931 illegal Mitglied der NSDAP. Nach der Machtübertragung an die Nazis wurden hunderte von KPD-Mitgliedern im Recklinghäuser Polizeipräsidium brutal gefoltert. Außerdem war Tenholt verantwortlich für die Todessprünge des KPD-Reichstagsabgeordneten Albert Funk sowie des KPD-Funktionärs Vörding aus Coesfeld. Bei seinen Recherchen zu einer Buchveröffentlichung über Albert Funk hat Bickhove-Swiderski bisher unveröffentlichte Dokumente im Bundesarchiv in Berlin ausgewertet; außerdem liegen ihm 180 Aussagen ehemaliger KPD-Mitglieder vor. Diese Akte hat die Zeit des KPD-Verbotes von 1956 im Haus eines Recklinghäuser KPD-Funktionärs eingemauert überdauert.

In einer der Aussagen wird berichtet: „Während die anderen Kriminal-Beamten die Wohnung durchsuchten, wurde ich von T e n h o l d  verhört. Dabei versetzte er mir dauernd Faustschläge ins Gesicht. (…) Im Laufe des Verhörs, forderte T e n h o l d  meine Frau auf, die Brille abzunehmen, wonach er sie dann mehrere Male ins Gesicht schlug. Wir wurden beide, meine Frau und ich, verhaftet. (…) Noch am Vormittag desgleichen Tages, wurde ich zur Vernehmung vorgeführt. Im Vernehmungszimmer wurde ich kurzerhand über einen Tisch gestoßen und mit Knüppeln und Stahlruten geschlagen. Nach etwa 30 Schlägen, wurde ich von Tenhold aufgefordert, auszusagen. Da ich schwieg, begann die Prozedur von Neuem. Dieses wiederholte sich 5 Mal, wobei ich durchschnittlich jedes Mal 50 Schläge erhielt, die auf Rücken, Gesäß und Beine niedersausten. Neben Kommissar Tenhold waren noch 6 andere Männer im Vernehmungszimmer, von denen jedes Mal 4 schlugen . Auch Tenhold selbst beteiligte sich am Schlagen. Während dieser Vernehmung sagte Tenhold zu mir, dass ein Tag vorher einer durch s Fenster gegangen sei und ich ihm nachfolgen könnte. Bei der letzten Prozedur wurde ich ohnmächtig.“

Der Vortrag findet passenderweise in der Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“, im ehemaligen Polizeigebäude von 1907 in Gelsenkirchen-Erle statt. In der Nazi-Zeit war das Haus unter anderem Sitz der NSDAP-Ortsgruppenleitung Buer-Erle und der Erler SA. Nach dem Fund einer Wandinschrift mit dem Parteiprogramm der NSDAP von 1920 wurde diese unter Denkmalschutz gestellt und am 8. Mai 1994 im Haus eine Dokumentationsstätte mit einer Dauerausstellung über Gelsenkirchen im Nationalsozialismus eröffnet. Hier führt das ISG regelmäßig Veranstaltungen durch, um „mit ausgewiesenen Fachleuten verschiedene Themen aus der Geschichte des Nationalsozialismus und aus der politischen und pädagogischen Auseinandersetzung mit dem ‚Dritten Reich‘ öffentlich zu diskutieren.“

„Wilhelm Tenholt – Chef der Gestapoleitstelle Recklinghausen – Gelsenkirchen von 1933-1936“ von Ortwin Bickhove-Swiderski, Dülmen. Der Vortrag findet am Mittwoch, 24. Februar 2016, ab 19 Uhr in der Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“, Cranger Straße 323 in 45891 Gelsenkirchen statt. Die Einrichtung ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Linien 301, 342, 381, 397,398, Haltestelle „Marktstraße“) gut zu erreichen.

Weitere Veranstaltungen im 1. Halbjahr 2016

Eindrücke aus Warschau und Treblinka

Nachdem ich im vergangenen Jahr mit dem DGB-Bildungswerk NRW e.V. Erinnerungsorte des Ersten Weltkrieges in Belgien und Nordfrankreich besucht hatte, fuhr ich in diesem Jahr – erneut mit dem gewerkschaftlichen Bildungswerk – in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, verbunden mit einem anderen, ungleich schwierigeren Zeitabschnitt unserer Geschichte. Das Studienseminar führte uns vom 23. bis 28.08.2015 nach Polen zu „Stätten des Naziterrors in Warschau“ und in Treblinka, die Themen waren „Verfolgung, Widerstand, Neubeginn“ und reichten bis in die Gegenwart. Für mich war es zugleich auch der erste Besuch in unserem östlichen Nachbarland.

Blick von der Aussichtsplattform des Kulurpalastes im 30. Stockwerk auf Warschau

Blick auf Warschau von der Aussichtsplattform im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

Warschau im Jahre 2015 ist die boomende Hauptstadt Polens mit den üblichen großstädtischen Glaspalästen im Zentrum. Meine Eindrücke waren wie erwartet sehr kontrastreich und – natürlich – durch eigenes Vorwissen aus Büchern und Filmen geprägt. In Warschau erinnert auf den ersten Blick wenig an die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die Innenstadt wurde nach den beiden Aufständen, dem Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 und dem nationalpolnischen Warschauer Aufstand 1944, von den Nazis weitgehend dem Erdboden gleichgemacht. Im heutigen Stadtbild gibt es wenige Überreste, allerdings rekonstruierte historische Gebäude in der Altstadt, Museen, Denkmäler und Gedenksteine.

Symbolischer Friedhof in der Gedenkstätte Treblinka

Symbolischer Friedhof in der Gedenkstätte Treblinka

Zum Programm gehörte auch eine Fahrt in das ehemalige Vernichtungslager Treblinka, welches von den Nazis, nachdem es seine Aufgabe erfüllt hatte, komplett zerstört wurde. Übrig blieben die Massengräber der weit über 800 000 ermordeten Juden. Seit 1963 erinnert hier eine Gedenkstätte an die Ereignisse, seit 2010 besteht ein Museum mit einer Ausstellung, die den historischen Ort erklärt.

Kooperationspartner des Bildungswerks war Hartmut Ziesing, der nach langjährigen Erfahrungen in der Gedenkstättenarbeit in Polen und Deutschland Studienreisen organisiert. Auch seine polnischen Sprachkenntnisse waren uns während der Führung durch den Leiter der Gedenkstätte in Treblinka und in Gesprächen mit einer Zeitzeugin sehr hilfreich. Er wies uns zu Beginn des Seminars auch auf die Bedeutung des 23. August hin, an dem in Polen an den 1939 geschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt erinnert wird. Dieser in Deutschland sachlich als deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt oder auch politisch konnotiert als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnete Vertrag kennzeichnete in seinem geheimen Zusatzprotokoll die Interessensphären beider Länder in Osteuropa und teilte – auch Polen – unter beiden Mächten auf.

Darstellung im Museum des Warschauer Aufstandes, das die Aufteilung Vorkriegspolens durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion im Jahre 1939 zeigt

Darstellung im Museum des Warschauer Aufstandes, das die Aufteilung Vorkriegspolens durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion im Jahre 1939 zeigt

Diese Teilung Polens während des zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion begegnete uns in den besuchten Museen immer wieder. Sie besitzt für die polnische Geschichtsdarstellung der Zeit erkennbar einen hohen Stellenwert und bietet Anschlussfähigkeit zu nationalkonservativen und antikommunistischen Sichtweisen. Letztere begegnete uns auch immer wieder indem die Zeit zwischen 1945 und 1989 mit „im Kommunismus“ bezeichnet wurde.

Auch ein Relikt aus der Zeit des "Kommunismus" in Polen: Der Kulturpalast

Auch ein Relikt aus der Zeit des „Kommunismus“ in Polen: Der Kulturpalast im Zentrum Warschaus im Zuckerbäckerstil

Das jüdische Warschau und der Ghettoaufstand

Soweit ich mich erinnern kann hatte ich zum ersten Mal 1981 im Alter von 16 Jahren durch die Fernsehserie „Ein Stück Himmel“ nach den Erinnerungen von Janina David vom Warschauer Ghetto während der Besetzung Polens durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg erfahren. Heute handelt es sich bei dem Gebiet des ehemaligen Ghettos um eine normale Wohngegend, die sich nicht groß von Wohngegenden in anderen ehemals sozialistischen Staaten unterscheidet.

Markierung des ehemaligen Verlaufs der Ghetto-Mauer im Straßenpflaster

Markierung des ehemaligen Verlaufs der Ghetto-Mauer im Straßenpflaster

Das Ghetto, zuerst als „Sperrbezirk“ bezeichnet, umfasste das frühere jüdische Warschau. Es wurde durch eine Mauer umschlossen, Juden aus anderen Orten wurden hierhin deportiert und auf engstem Raum zusammengepfercht. Das Warschauer Ghetto wurde im Laufe der Zeit verkleinert und geteilt. Eine Holzbrücke verband den größeren nördlichen und den kleineren südlichen Teil. Heute gibt es einige wenige erhaltene bauliche Reste sowie gestaltete Erinnerungsorte. Zu ihnen gehören zum Beispiel die Markierung des Standortes der Ghetto-Mauer im Pflaster einiger Straßen sowie eine Erläuterung am ehemaligen Standort der Holzbrücke.

Ehemaliger Standort der Holzbrücke, die die beiden Teile des Warschauer Ghettos miteinander verband

Ehemaliger Standort der Holzbrücke, die die beiden Teile des Warschauer Ghettos miteinander verband

Wer nicht schon im Ghetto dem Hunger oder der Epidemien zum Opfer fiel, wurde in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka ermordet oder starb beim Ghetto-Aufstand 1943. An ihn erinnert ein großes Denkmal der Helden des Ghettos gegenüber des im Oktober 2014 neu eröffneten Museum der Geschichte der polnischen Juden. Das Denkmal für die Ghetto-Helden wurde unmittelbar nach dem Krieg inmitten des Ruinenfeldes errichtet. Es zeigt auf der Vorderseite die Ghetto-Kämpfer und auf der Rückseite das Leid und Elend im Ghetto. Dies ist auch der berühmte Ort des Kniefalls von Willy Brandt, der in einem eigenen, kleinen Denkmal festgehalten wird.

Denkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto

Denkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto

Weiter nördlich befindet sich ein Grabstein für die Ghetto-Kämpfer sowie ein Denkmal am ehemaligen „Umschlagplatz“. Schon die Bezeichnung des Platzes weist auf die Unmenschlichkeit der Nazis hin, die von hier aus Menschen in die Vernichtungslager deportierten.

Multimediale Darstellung im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Multimediale Darstellung im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Das „Polin“, das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin – Muzeum Historii Zydow Polskich) zeigt in modernster multimedialer Darstellung die tausendjährige Geschichte der polnischen Juden. Ähnlich wie das Jüdische Museum in Berlin konzentriert es sich nicht allein auf die Vernichtung durch die Nazis, sondern zeigt die ganze Breite der tausendjährigen jüdischen Geschichte in Polen. Wer will, kann auch einen ironischen Bezug zum sogenannten „tausendjährigen Reich“ der Nazis herstellen, welches zum Glück nur 12 Jahre andauerte.
Die Geschichte der Juden in Polen wird dabei immer auch im Zusammenhang mit der übrigen polnischen Geschichte dargestellt, die über die Zeit der polnisch-litauischen Union, den drei polnischen Teilungen durch Preußen, Österreich und Russland und dem Wiedererstehen eines polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht.

Treblinka

Auch mit Treblinka verbinde ich eine mediale Erinnerung, dieses Mal aus dem Jahre 1985. Der Film „Sie sind frei, Doktor Korczak“, eine israelisch-deutsche Produktion aus dem Jahre 1974 mit Leo Genn in der Hauptrolle, beginnt mit der Suche durch eines der überlebenden Waisenkinder. Nach einer Wanderung entlang eines Schienenstranges erreicht er ein leeres Feld und fragt einen Bauer nach dem „deutschen Konzentrationslager Treblinka“. Der Bauer zeigt ins Gelände, und antwortet, dass es hier gewesen sei. Auch auf die Frage, wo all die Menschen hin sind, zeigt der Bauer wieder ins Gelände.

Erläuterungstafel der Gedenkstätte Treblinka

Erläuterungstafel der Gedenkstätte Treblinka

Die Fahrt nach Treblinka führte uns weit aus Warschau hinaus in eine sehr ländliche Gegend Polens. Unsere Besuchergruppe gehört zu den wenigen deutschen Besuchern dieses Ortes, der stark von israelischen bzw. jüdische Gruppen aus aller Welt besucht wird. Wir kamen in den Genuss einer persönlichen Führung durch den Leiter der Gedenkstätte, Herrn Edwart Kopowka, der uns den Ort zunächst anhand des Lagermodells im Museum und anschließend die Gedenkstätte selbst kenntnisreich und ausführlich erläuterte.

Seit 2010 besteht „Das Museum für Kampf und Märtyrertum in Treblinka“ (Muzeum Walki i Meczenstwa w Treblince) als Filiale des Regionalmuseums in Siedlce und erklärt in einer Ausstellung den Ort. In vier Teilen zeigt die Ausstellung den Kriegsbeginn 1939, die deutsche Besatzung und das Zwangsarbeitslager (Treblinka I), eine Ausstellung jüdischer Grabsteine, die von einem nahegelegenen Friedhof geholt als Straßenuntergrund verwendet worden waren sowie das Vernichtungslager (Treblinka II). Die in der Ausstellung gezeigten Fotos sind die einzigen, die von dem Vernichtungslager existieren.

Lagermodell im Museum der Gedenkstätte Treblinka

Lagermodell im Museum der Gedenkstätte Treblinka

Das Vernichtungslager Treblinka wurde in der Nähe eines gleichnamigen Zwangsarbeitslagers errichtet. Anders als andere Konzentrationslager diente es ausschließlich der Vernichtung. Alle deportierten Juden wurden innerhalb weniger Stunden in den Gaskammern ermordet und anschließend in Massengräbern verscharrt. Das Lager wurde im Frühling 1942 im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ errichtet und mit einer kleinen Lagermannschaft aus Deutschen, Österreichern und Ukrainern bemannt. Bis November 1943 wurden hier mehr als 800 000 Menschen aus Polen, Österreich, Belgien, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Deutschland und der Sowjetunion ermordet. Vor der Auflösung des Lagers wurden die Leichen der Ermordeten wieder ausgegraben und verbrannt. Das Lager wurde komplett zerstört und zur Tarnung ein Bauernhof errichtet.

Gedenkstätte Treblinka mit der symbolischen Eisenbahnrampe

Gedenkstätte Treblinka mit der symbolischen Eisenbahnrampe

Auf dem Gebiet des ehemaligen Lagers wurde 1959 bis 1963 eine Gedenkstätte nach den Entwürfen der drei Kunstprofessoren Adam Haupt, Franciszek Duszenko und Franciszek Strynkiewicz errichtet, die das Lager symbolisieren. Zur Gedenkstätte gehören unter anderem ein symbolisches Lagertor, eine symbolische Eisenbahnrampe und ein symbolischer Ort der Leichenverbrennung. Gedenksteine erinnern an die (teilweise ehemaligen) Länder, aus denen die Ermordeten stammten. Mit „Mazedonien“ ist nach dem Zerfall Jugoslawiens ein weiterer Stein neu hinzugekommen.

17 000 Grabsteine über den Massengräbern symbolisieren die Anzahl der Menschen, die an einem Tag ermordet wurden

17 000 Grabsteine über den Massengräbern symbolisieren die Anzahl der Menschen, die an einem Tag ermordet wurden

Über den damals bekannten Massengräbern wurde ein Denkmal mit 17 000 unterschiedlich großen Grabsteinen geschaffen. Die Zahl erinnert an die Zahl der pro Tag ermordeten. Einige Grabsteine sind beschriftet und erinnern an jüdische Ghettos. Das von den Nazis zur Tarnung errichtet Bauernhaus ist im Wald vorhanden, durch die Gedenkstätte aber nicht erschlossen.

Der einzige personenbezogene Grabstein auf dem Gebiet des symbolischen Friedhofs in Treblinka für Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) und die Kinder

Der einzige personenbezogene Grabstein auf dem Gebiet des symbolischen Friedhofs in Treblinka für Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) und die Kinder

Sehr berührt hat mich der einzige personenbezogene Grabstein für Janusz Korczak und die Kinder. Der Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak wurde zusammen mit seinen Waisenkindern aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka deportiert und hier Anfang August 1942 ermordet.

Symbolischer Ort der Leichenverbrennung

Symbolischer Ort der Leichenverbrennung

Auf mich wirkte der Ort ruhig und still, mit dem Wissen um seine Geschichte totenstill und unheimlich.

Warschauer Aufstand

Zeigt das „Polin“, das Museum der Geschichte der polnischen Juden die tausendjährige Geschichte der polnischen Juden, so konzentriert sich das Museum des Warschauer Aufstands (Muzeum Powstania Warszawskiego) auf die 63 Tage des Warschauer Aufstands 1944 sowie der Vor- und Nachgeschichte des Ereignisses. Eine Karte (weiter oben im Beitrag abgebildet) weist wieder auf die für Polen so bedeutsame Aufteilung durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion hin. Die Karte zeigt das Polen in den Grenzen von 1939 dreigeteilt: in das von Nazi-Deutschland annektierte Gebiet im Westen, das deutsch beherrschte „Generalgouvernement“ und das von der Sowjetunion annektierte Gebiet im Osten. Auch diese Museumsausstellung ist multimedial gestaltet. Eine große Attraktion ist ein Nachbau einer B-24J neben zahlreichen Fotos, Filmen, Uniformen und anderen Ausstellungsstücken.

Ausstellung der Uniformen im Museum des Warschauer Aufstandes

Ausstellung der Uniformen im Museum des Warschauer Aufstandes

An der Führung durch die Ausstellung in englischer Sprache schloss sich ein Gespräch mit einer Zeitzeugin an. Frau Hana Stadnik, 1929 als Hana Sikorska geboren und mit 15 Jahren als Sanitäterin am Warschauer Aufstand beteiligt, erzählte von ihren Erlebnissen und beantwortete zahlreiche unserer Fragen. So entstand ein Bild der Zeit, dass mit dem Kriegsbeginn 1939 und dem Bombardement Warschaus durch die deutsche Luftwaffe begann. Sie erzählte vom Untergrundstaat, dem illegal organisierten Schulbesuch und der Ausbildung zur Sanitäterin, bis hin zur Niederlegung der Waffen am Ende des aussichtslosen Aufstandes 1944. Nach dem Krieg wurden die am Aufstand Beteiligten diskriminiert, Frau Stadnik musste ihr begonnenes Studium aufgeben, weil sie am Warschauer Aufstand beteiligt gewesen ist. Sie klang dennoch nicht verbittert, sondern berichtete, wie viele Kinder, und Enkel- und Urenkelkinder sie habe, einige leben in Schweden und in den USA. Für die Teilnahme am Aufstand und den Folgen ist sie übrigens nie entschädigt worden.

Denkmal an den Warschauer Aufstand 1944

Denkmal an den Warschauer Aufstand 1944

Der Warschauer Aufstand und die von einigen Teilnehmern als einseitig national-konservativ kritisierte Darstellung im Museum wurde bis in die Abschlussrunde hinein kontrovers diskutiert. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft auf die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in Berlin hinweisen, die inzwischen die Breite des deutschen Widerstandes gegen die Nazis darstellt, nachdem sie sich jahrzehntelang ausschließlich auf den national-konservativen Widerstand des 20. Juli konzentriert hatte. Lassen wir der polnischen Zivilgesellschaft doch die Zeit, eine ausgewogene Position zu finden.

Das Erbe der Geschichte

In der im Gebäude des Finanzministeriums beheimateten Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung (Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie) informierte uns der Leiter der Bildungsabteilung, Herr Deka, über die Entstehung der Stiftung in den 1990er Jahren im Rahmen der Entschädigung der Zwangsarbeiter durch deutsche Firmen, die sich vor Sammelklagen Überlebender in den USA und ihren Investitionen dort fürchteten. Zu den vorrangigen Aufgaben der Stiftung gehörte damals die Ermittlung der Daten Betroffener solange sie noch lebten. Er erläuterte den – wie ich finde – interessanten Unterschied zwischen Entschädigung und Leistung und den mit der Annahme der „Leistung“ verbundenen Verzicht auf weitere Forderungen. Man kann daraus zu Recht schließen, dass es den deutschen Firmen mehr um die eigene Rechtssicherheit als um eine Verpflichtung aus der Vergangenheit ging. Aus dem damals ermittelten Datenbestand der ehemaligen Zwangsarbeiter ist heute die über das Internet zugänglichen Datenbank entstanden.

Nach dem Zeitzeugengespräch signierte Ariel Yahalomi noch Exemplare seiner Erinnerungen, die er unter dem Titel "Ich habe überlebt" in polnisch und englisch veröffentlicht hat

Nach dem Zeitzeugengespräch signierte Ariel Yahalomi noch Exemplare seiner Erinnerungen, die er unter dem Titel „Ich habe überlebt“ in polnisch und englisch veröffentlicht hat

Anschließend fand im gleichen Gebäude ein Gespräch mit Herrn Ariel Yahalomi statt, der im polnischen Teil Oberschlesiens unter dem Namen Artur Dimant geboren wurde und zahlreiche Lager der Nazis überlebte. Er wanderte nach dem Krieg nach Israel aus, änderte seinen Namen und führte ein ganz neues Leben, bis ihn die Geschichte wieder einholte. Heute lebt er aus gesundheitlichen Gründen, aber auch weil er als Zeitzeuge gebraucht wird und sich gebraucht fühlt, in den Sommermonaten in Polen und in den Wintermonaten in Israel. Mit seiner Frau Krystyna Keren verbindet ihn die Geschichte, sie wurde im Warschauer Ghetto geboren und überlebte in einer polnischen Familie.

Gedanken zum Schluß

Wer heute als Deutscher nach Polen fährt, muss sich selbstverständlich keine persönliche oder kollektive Schuld anrechnen lassen. Selbst die Denkmäler und Zeitzeugen zeigen sich oft sehr rücksichtsvoll mit unserer Vergangenheit und schreiben oder sprechen von Nazis oder Besatzern und nur sehr selten von Deutschen. Diese Vergangenheit liegt inzwischen mehr als 70 Jahre zurück und wird in Polen erkennbar von der Zeit danach, die man dort „den Kommunismus“ nennt, überlagert. Für mich war es der erste Besuch in Polen und ich hatte im Umfeld des Seminars viele Gelegenheiten, Polen und Warschau heute kennen zu lernen. Ich schließe mit einem Fundstück, den ein unbekannter Besucher auf der Aussichtsetage des Kulturpalastes, auch einem Erbe der „Kommunisten“, hinterlassen hat. Dieser Kulturpalast feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag und trägt eigentlich den Namen Kultur- und Wissenschaftspalast (Palac Kultury i Nauki). Das „Geschenk Stalins an Polen“ ist auch heute noch ein Wahrzeichen der Stadt.

Fundstück in der Aussichtsetage im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

Fundstück in der Aussichtsetage im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

Frauen ermordeter Gelsenkirchener Widerstandskämpfer

Frauen ermordeter Gelsenkirchener Widerstandskämpfer 1948 (v.l.n.r.) Auguste Frost, Anna Bukowski, Emma Rahkob, Änne Littek, Luise Eichenauer

Frauen ermordeter Gelsenkirchener Widerstandskämpfer 1948 (v.l.n.r.) Auguste Frost, Anna Bukowski, Emma Rahkob, Änne Littek, Luise Eichenauer (Foto: Privatbesitz)

In meiner Überblicksdarstellung zur Geschichte der Gelsenkirchener VVN-BdA verwendete ich im ersten Teil ein Foto mit Frauen ermordeter Widerstandskämpfer aus dem Jahr 1948. Aus der Beschriftung meiner Quelle gingen leider nur die Namen von Luise Eichenauer, Änne Littek, Emma Rahkob und Anna Bukowski hervor, der Name der Frau ganz links blieb unbekannt. Doch dank der Möglichkeiten des Internets wurde die Identität der unbekannten Frau geklärt.

Dabei handelt es sich um Auguste Frost, der Ehefrau von Hermann Frost, der als Mitglied der Zielasko-Gruppe vom sogenannten „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt und am 20.10.1944 im Gefängnis München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet worden ist. Darauf wies mich jetzt ein naher Verwandter mit dem Originalfoto per E-Mail hin. Alle fünf sind Frauen der im Zuge der Zerschlagung der Zielasko-Gruppe 1943 verhafteten Männer.

Zielasko, Bergmann aus Gladbeck, Kämpfer in den Gladbecker Verbänden der „Roten Ruhrarmee“ 1920 gegen Kapp-Putsch und Freikorps, Mitglied erst der USPD (1918), dann der SPD (1922) und schließlich der KPD (1926/27), emigrierte 1932 in die Sowjetunion. Er kämpfte 1937 bis 1939 im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Franco-Putschisten, wurde im März 1943 von der Sowjetunion mit dem Fallschirm über Polen abgesetzt und nahm im Ruhrgebiet Kontakt mit Gleichgesinnten auf, die wie er der festen Überzeugung waren, dass man Krieg und Faschismus aktiv bekämpfen muss. Die Widerstandsgruppe, die u.a. in Gladbeck, Oberhausen, Essen und Gelsenkirchen Kontakte knüpfte, wurde verraten. Im August 1943 verhaftete die Gestapo 45 Antifaschisten, darunter auch die Ehemänner der hier abgebildeten Frauen, Hermann Frost, Paul Bukowski, Friedrich Rahkob, Rudolf Littek und Johann Eichenauer.

Franz Zielasko wurde schon bei den Verhören brutal zu Tode gefoltert, viele andere, darunter auch Hermann Frost, Paul Bukowski und Friedrich Rahkob wurden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat in Verbindung mit Feindbegünstigung“ vom sog. „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet. Rudolf Littek und Johann Eichenauer wurden zwar freigesprochen, blieben jedoch in Haft und starben 1945 bei einem britischen Fliegerangriff auf die „schwimmenden KZs“ in der Lübecker Bucht. Von Emma Rahkob ist bekannt, dass sie am Tag der Hinrichtung ihres Mannes, dem 24. August 1944, ebenfalls verhaftet wurde, jedoch kurz vor der Deportation in ein Konzentrationslager für Frauen von alliierten Truppen aus dem Münchener Polizeigefängnis befreit worden ist und nach Gelsenkirchen zurückkehren konnte.

An die zur Zielasko-Gruppe gehörenden Karl Schuster, Johann Eichenauer und Andreas Schillack wird auf dem 1947/48 von der VVN errichteten Mahnmal an den antifaschistischen Widerstand auf dem Horster Südfriedhof erinnert, an Fritz Rahkob durch die Benennung des Fritz-Rahkob-Platzes 1987 in der Gelsenkirchener Innenstadt und seit 2011 durch einen Stolperstein vor seinem letzten Wohnort in der Liebfrauenstraße 38 in Gelsenkirchen. Stolpersteine erinnern auch an Andreas Schillack jun. (Essener Straße 71) und Paul Bukowski (Zollvereinstraße 4) sowie in der Redenstraße 34 in Gladbeck an Franz Zielasko. Stolpersteine für Rudolf Littek und Johann Eichenauer sind in Vorbereitung.

Bearbeitete Fassung