Archiv der Kategorie: Völkermord

Gedenken an die Reichspogromnacht unter Pandemiebedingungen

Das Aktionsbündnis ruft dazu auf, Stolpersteine zu putzen.

Wie schon der Ostermarsch und der 1. Mai steht auch die traditionelle Veranstaltung anlässlich der Reichspogromnacht an diesem 9. November unter den Kontaktbeschränkungen, verursacht durch die Corona-Pandemie.

Die Demokratische Initiative (DI) hat ihre öffentliche Gedenkkundgebung abgesagt. Sie wurde stattdessen – nur mit einer eingeschränkten Teilnehmerzahl – vorgezogen und aufgezeichnet. Diese soll bis zum ursprünglich geplanten Termin 18.30 Uhr auf gelsenkirchen.de zu sehen seien. EIne filmische Zusammenfassung soll auf den Social-Media-Kanälen der Stadt veröffentlicht werden.

Das Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung (s. Bild) hat dazu aufgerufen, am 8. und 9.11. Stolpersteine zu putzen. Wie auch die DI ruft das Bündnis dazu auf, als Symbol des Erinnerns und Gedenkens ein Licht ins Fenster zu stellen. Im Rahmen des Aktionsbündnisses hat die VVN-BdA Gelsenkirchen – dank technischer Unterstützung aus der Partei DIE LINKE – eine Stolperstein-Geschichte aufgezeichnet, die auf der Facebook-Seite des Aktionsbündnisses angesehen werden kann. (Der Filmbeitrag kann auch angesehen ist, wenn man nicht Mitglied bei Facebook ist, eventuelle Anmeldehinweise einfach wegklicken). Einen kleinen Überblick über das Kunstprojekt Stolpersteine gibt die VVN-BdA ebenfalls auf ihrer Gelsenkirchener Webseite.

Die einzige öffentliche Kundgebung führt AUF Gelsenkirchen ab 17.30 Uhr durch. Unter dem Motto „Gib Antikommunismus, Rassismus, Faschismus und Antisemitismus keine Chance“ startet AUF Gelsenkirchen auf dem Heinrich-König-Platz und macht Station auf dem Rosa-Böhmer-Platz, dem Fritz-Rahkob-Platz und endet auf dem Platz der alten Synagoge. Es gelten Maskenpflicht und Abstandsregel.

Srebrenica 1995 – Genozid mitten in Europa

Namenstafel an der Völkermord-Gedenkstätte in Potočari in der Nähe von Srebrenica (Quelle: Wikipedia).

Der 11. Juli ist ein heute fast vergessenes Datum. Heute vor 25 Jahren – genau 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – fand 1995 in Europa ein Genozid statt. Die Überlebenden begehen ihn als „Screbrenica Memorial Day“ und erinnern an das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Vor 25 Jahren nahmen bosnisch-serbische Militäreinheiten die schutzlose „UN-Schutzzone“ Srebrenica ein, Frauen und Kinder wurden deportiert, Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren in den darauffolgenden Tagen ermordet und in Massengräbern verscharrt. Prozesse vor internationalen Gerichten gegen die Verantwortlichen zeigten, dass die Verbrechen systematisch geplant und durchgeführt wurden. Bis zum heutigen Tage sind noch nicht alle Opfer identifiziert. Dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zufolge handelt es sich um mehr als 8.000 Menschen, die nur wegen ihrer Zugehörigkeit zur muslimischen Volksgruppe ermordet worden sind.

Dieser Genozid war der Höhepunkt einer Politik der „Ethnischen Säuberung“, die im sich auflösenden Jugoslawien vor allem den multiethnischen Teilstaat Bosnien-Herzegowina traf, auf dessen Territorium seit Jahrhunderten Kroaten, muslimische Bosniaken und Serben lebten. Der aus dem Englischen übersetzte und in meinen Augen euphemistische Begriff „Ethnischen Säuberung“ wurde bereits 1992 von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gekürt.

Das Massaker von Srebrenica wird vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und vom Internationalen Gerichtshof als Genozid eingestuft, dennoch weigern sich hochranginge serbische Politiker immer noch bzw. wieder, das Verbrechen als Völkermord anzuerkennen.

Fotoquelle

Geschichte und Gegenwart – Eindrücke aus Lodz und Kulmhof

Zum dritten Mal reiste ich mit dem DGB-Bildungswerk NRW an Erinnerungsorte, zum zweiten Mal ging es nach Polen. Besuchten wir im Rahmen eines Studienseminars 2014 Orte in Belgien und Nordfrankreich, die an die Schrecken des Ersten Weltkrieges im Westen erinnerten, fuhren wir 2015 nach Warschau und Treblinka zu Orten, die an Nazi-Terror und Zweiten Weltkrieges erinnerten. In diesem Jahr standen vom 28.08. bis 02.09.2016 die Stadt Lodz, von den Nazis während der Besetzung in Litzmannstadt umbenannt, und das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno on Ner) auf dem Programm. Zugleich bot der Besuch in Lodz die Erkundung einer ehemals multikulturellen Stadt mit einer an das Ruhrgebiet erinnernden Industriegeschichte, die in einen aus dem Ruhrgebiet bekannten Strukturwandel mündete. Für die Organisation sorgte wie im vergangenen Jahr Hartmut Ziesing Bildungs- und Studienreisen.

Darstellung in der Ausstellung der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Die Darstellung in der Ausstellung der Gedenkstätte Bahnhof Radegast zeigt die Eroberung und Teilung Polens.

Zur polnischen Geschichte gehört die Erfahrung, zwischen übermächtigen Nachbarn erdrückt zu werden. Hierzu gehören nicht nur die drei polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert, die Polen zwischen dem russischen Zarenreich, dem Königreich Preußen und der Habsburgermonarchie Österreich aufteilten und von der Landkarte verschwinden ließen, sondern auch die Aufteilung des nach dem Ersten Weltkriegs neu entstandenen polnischen Staates 1939 zu Beginn des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion. Eine Karte in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast stellt diesen Sachverhalt anschaulich dar. In Bezug auf die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland am 1. September 1939 unterscheidet sich die Erinnerung zwischen Deutschland und Polen. Während in Deutschland eher an den von Nazis gefälschten „Überfall Polens auf den Sender Gleiwitz“ erinnert wird, steht in Polen die Verteidigung der Westerplatte bei Danzig im Mittelpunkt.

Hotel Grand auf der Piotrkowska in Lodz.

Hotel Grand auf der Piotrkowska in Lodz, einer einzigartigen Prachtstraße.

Untergebracht waren wir im Hotel Grand, einem seit 1888 bestehendem eleganten Hotel. Erwarteten die Gäste damals „modern ausgestattete, mit Gas beleuchtete Zimmer mit Sanitäranlagen und transportablen Waschbecken“, so besaßen 1913 „einige Appartements“ bereits elektrische Beleuchtung, Telefon sowie „Waschbecken mit warmem und kaltem Wasser“. In der Gegenwart hat das Hotel noch viel von seinem Charme aus der Vorvorkriegszeit erhalten, trotz Dusche und W-LAN. Das Hotel Grand befindet sich auf der Piotrkowska Straße 72, einer 4,2 km langen einzigartigen Prachtstraße mit einem erhaltenen Ensemble originaler Großstadtarchitektur aus dem 19. Jahrhundert. Da Lodz während des Zweiten Weltkrieges, anders als Warschau, nicht zerstört wurde, sind im Stadtgebiet noch die zahlreichen Villen, Paläste und Industriebauten der im 19. Jahrhundert aufstrebenden Textilindustrie zu sehen. Lodz gehörte seit dem Wiener Kongress 1815 zum Russischen Zarenreich („Kongresspolen“) und war eine multikulturelle und multiethnische Stadt, in der Deutsche, Juden, Polen und Russen lebten und arbeiteten.

Der Palast des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski beherbergt heute ein Museum.

Der Palast des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski beherbergt heute ein Museum.

Im Verlauf der Woche besuchten wir Palast und Fabrikimperium des jüdischen Fabrikanten Israel Poznanski, die heute das Museum der Stadt Lodz bzw. mit der Manufaktura ein postindustrielles Einkaufs- und Unterhaltungszentrum beherbergen, sowie Villa, Fabrikgebäude und Arbeiterviertel des deutschen Fabrikanten Karl Scheibler, in denen sich heute ein Museum der Polnischen Kinematographie bzw. moderne Lofts oder Wohnungen befinden. Lodz war in seiner Glanzzeit nach Warschau die zweitgrößte Stadt Polens, heute ist sie auf den dritten Platz nach Warschau und Krakau gerutscht.

Ghetto Litzmannstadt

Der von Nazi-Deutschland 1939 besetzte Teil Polens wurde teilweise direkt an Deutschland angeschlossen, der Rest als „Generalgouvernement“ verwaltet. Lodz gehörte zu dem Gebiet, das dem Deutschen Reich angeschlossen wurde. Die Stadt befand sich im neu gegründeten Gau Wartheland und wurde in Litzmannstadt umbenannt.

Beispiel für eines der erhaltenen Gebäude des ehemaligen Ghettos.

Beispiel für eines der erhaltenen Gebäude des ehemaligen Ghettos.

Wie auch in Warschau und anderen polnischen Städten sperrten die Nazis die jüdische Bevölkerung in eigenen Wohnbezirken ein, auch die polnische wurde von der deutschen Bevölkerung stadträumlich getrennt. Das 1940 errichtete Ghetto Litzmannstadt umfasste dabei den ärmsten Teil der Stadt. Es handelt sich um das am längsten existierende Ghetto „und zugleich die zweitgrößte Konzentrations- und Zwangsarbeitsstätte für die jüdische Bevölkerung auf polnischem Gebiet“. Anders als in Warschau sind noch zahlreiche Gebäude vorhanden, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar. Ehemalige Synagogen, die in anderen Teilen der Stadt gesprengt wurden, werden heute in anderer Funktion genutzt. Kirchen, die im Ghetto als Lager genutzt wurden, werden heute wieder als Kirche genutzt. Andere Gebäude werden als Wohngebäude genutzt und an ihnen kann man sehen, dass es sich damals wie heute um den ärmeren Teil der Stadt handelt.

Bodendenkmal erinnert wie ein Stolperstein auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.

Bodendenkmal erinnert wie ein Stolperstein auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos.

Zu den umstrittenen Personen gehört der von den Nazis eingesetzte Älteste des Judenrates, Chaim Rumkowski. Er setzte darauf, dass sich die Juden des Ghettos durch ihre Arbeitskraft unentbehrlich machten („Unser einziger Weg ist Arbeit!“), gab allerdings dadurch die nichtarbeitsfähigen Kinder, Alten und Kranken der Vernichtung preis. Ende 1942 arbeiteten etwa 80 % der Ghetto-Bevölkerung in 90 Abteilungen, später 95 % in 96 Abteilungen. Im Ergebnis existierte das Ghetto Litzmannstadt am längsten von allen NS-Ghettos. Rumkowski selbst überlebte nicht.

Bahnhof Radegast

Zug der Deutschen Reichsbahn - Ausstellungsstück der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Zug der Deutschen Reichsbahn – Ausstellungsstück der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Die Gedenkstätte Bahnhof Radegast „ist ein im Original erhalten gebliebenes Bahngebäude aus dem Jahre 1941“. Hier wurden Produkte, Lebensmittel und Rohstoffe in das Ghetto und gefertigte Produkte aus dem Ghetto transportiert. Ab Januar 1942 gingen von hier die Transporte in die Vernichtungslager ab. Zur Gedenkstätte gehören eine Dampflok mit Waggons, die an die Deportationen erinnern, eine Ausstellung zum Ghetto Lodz mit einem noch unvollständigen Modell des Ghettos sowie einer weiteren Ausstellung mit Briefen aus dem Ghetto. Neben einer Gedenkwand mit den Namen der Konzentrations- und Vernichtungslager gibt es einen langen Tunnel, der Ereignisse von 1939 bis 1945 und die Deportationslisten zeigt. Träger der Gedenkstätte ist das Museum der Unabhängigkeitstraditionen Lodz.

Gedenkstätte Bahnhof Radegast - Tunnel mit Zeitleiste und Deportationslisten.

Gedenkstätte Bahnhof Radegast – Tunnel mit Zeitleiste und Deportationslisten.

Schmiede der Roma

Im Rahmen des Ghettos wurde 1941/42 ein „Zigeunerlager“ verwaltet, in dem rund 5000 Roma aus dem österreichisch-ungarischen Grenzgebiet zusammengepfercht worden waren. Die Insassen wurden vom Bahnhof Radegast in das Vernichtungslager Kulmhof gebracht und dort ermordet. Eine Ausstellung in der „Schmiede der Roma“, einem unscheinbaren Gebäude des ehemaligen „Zigeunerlagers“ erinnert an den Völkermord an den Roma unter Berücksichtigung der Geschichte des Lagers.

Modell des ehemaligen "Zigeunerlagers" in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast.

Modell des ehemaligen „Zigeunerlagers“ in der Gedenkstätte Bahnhof Radegast. Die „Schmiede der Roma“ ist das kleine Gebäude am linken Gebäude.

Vernichtungslager Kulmhof

Kulmhof gehörte zu den Vernichtungslagern, die von den Nazis extra in entlegenen und wenig bevölkerten Gebieten errichtet wurden. Ihr einziger, perverser Zweck war es, Menschen massenhaft zu ermorden. Das Lager wurde in der Zeit von Dezember 1941 bis April 1943 und erneut zur Auflösung des Ghettos Lodz 1944/45 betrieben. Die ersten Opfer stammten aus den Ghettos der umliegenden Städte, später kamen Juden und Roma aus Lodz bzw. weiteren Ländern hinzu. Die Ermordung geschah in LKWs durch Auspuffgase auf dem Weg von einem Gutshaus zu einem etwa 4 km entfernten Wald, wo die Ermordeten in Massengräbern verscharrt wurden. Um die Spuren zu verwischen, wurden die Leichen später wieder ausgegraben und in Krematorien verbrannt. Die Knochen wurden zerkleinert, Asche und Knochenreste erneut vergraben. Auch das Gutshaus wurde gesprengt. Eine ausführliche Beschreibung befindet sich auf deathcamps.org.

Foto aus der Ausstellung der Gedenkstätte Kulmhof, das einen der Gaswagen zeigt, mit deren Auspuffgasen die Ermordung auf dem Weg zum Wald stattfand.

Foto aus der Ausstellung der Gedenkstätte Kulmhof, das einen der Gaswagen zeigt, mit deren Auspuffgasen die Ermordung auf dem Weg zum Wald stattfand.

Heute befindet sich auf dem Gelände um die ausgegrabenen Fundamente des Gutshauses eine Gedenkstätte mit einer Ausstellung. Zu den Besuchern gehören im wesentlichen Gruppen aus Israel oder jüdische Gruppen aus aller Welt, Deutsche Besucher gibt es fast gar nicht. Auf dem Gelände des ehemaligen Waldlagers befinden sich heute verschiedene Denkmale sowie markierte Grabfelder, auf denen die Konzentration von Asche und Knochenreste am größten ist. Eigentlich ist das ganze ehemalige Waldlager ein großer Friedhof.

Gedenkstätte Kulmhof - Waldlager. Im Bild eines von vielen Massengräbern, in denen sich Asche und Knochenreste befinden.

Gedenkstätte Kulmhof – Waldlager. Im Bild eines von vielen Massengräbern, in denen sich Asche und Knochenreste befinden. Den Nazis gelang es nicht, alle Spuren zu beseitigen.

Überleben

Wird an vielen Gedenkorten das Andenken an die Ermordeten gepflegt, so wird im Survivor’s Park an die Überlebenden und im Ehrenhain für die Gerechten unter den Völkern an die Retter erinnert. Im ebenfalls dort gelegenen Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog gab es im Rahmen des Seminars eine Begegnung mit dem Zeitzeugen Leon Weintraub, einem betagten Überlebenden des Ghettos Litzmannstadt. Er lebt in Schweden und war anlässlich der Feierlichkeiten des 72. Jahrestages der Liquidierung des Ghettos Litzmannstadt nach Lodz gereist. Er erzählte unter anderem von den Zufälligkeiten, die dazu führten, dass man überlebte. Im KZ Auschwitz, wohin er von Litzmannstadt aus transportiert worden war, sah er vor einem Block eine Gruppe nackter Männer, die mit einer Nummer versehen, auf ihre Einkleidung warteten, um zu einem Arbeitseinsatz nach draußen gebracht zu werden. Kurz entschlossen zog er sich ebenfalls aus und stellte sich hinzu; dass ihm keine Nummer eintätowiert worden war, fiel nicht weiter auf. Später stellte sich heraus, dass alle anderen aus seinem Block ermordet worden sind. Er überlebte.

Ausstellung zu Überlebenden des Holocaust, darunter auch Leon Weintraub, im Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog.

Ausstellung zu Überlebenden des Holocaust, darunter auch Leon Weintraub, im Marek-Edelmann-Zentrum für Dialog.

Spurensuche

Spuren ehemaligen jüdischen Lebens lassen sich natürlich zahlreich auf dem Jüdischen Friedhof finden. Das für mich besondere an diesem Friedhof ist, dass hier viele Gräber orthodoxer Juden bewusst dem Verfall preis gegeben sind. Inzwischen gibt es wieder eine kleine jüdische Gemeinde, so dass auf ihm nach langer Zeit auch wieder neue Bestattungen stattfinden. Doch auch in Lodz selbst lässt sich die eine oder andere Spur finden, wie das folgende Foto zeigt.

Im Hinterhof der Piotrkowska 88 findet sich diese Spur. Wer genau hinschaut, kann den Davidstern erkennen.

Im Hinterhof der Piotrkowska 88 findet sich diese Spur. Wer genau hinschaut, kann den Davidstern erkennen.

Das gelobte Land

Im Rahmen des Seminars besuchten wir die Filmhochschule, die mit Namen wie Roman Polanski und Andrzej Wajda verbunden ist. Von letzterem stammt mit „Das gelobte Land“ ein eindrucksvoller Film über das Lodz des 19. Jahrhunderts. Das in Deutschland bekannte Lied „Theo wir fahr’n nach Lodz“, ein Schlager, gesungen von Vicky Leandros (1974), thematisierte die Landflucht des 19. Jahrhunderts. Auf youtube findet sich ein wundervoller Werbefilm, den die Stadt Lodz 2009 produzieren ließ und der den Text aus dem Jahre 1974 aufnimmt.

Eindrücke aus Warschau und Treblinka

Nachdem ich im vergangenen Jahr mit dem DGB-Bildungswerk NRW e.V. Erinnerungsorte des Ersten Weltkrieges in Belgien und Nordfrankreich besucht hatte, fuhr ich in diesem Jahr – erneut mit dem gewerkschaftlichen Bildungswerk – in die entgegengesetzte Himmelsrichtung, verbunden mit einem anderen, ungleich schwierigeren Zeitabschnitt unserer Geschichte. Das Studienseminar führte uns vom 23. bis 28.08.2015 nach Polen zu „Stätten des Naziterrors in Warschau“ und in Treblinka, die Themen waren „Verfolgung, Widerstand, Neubeginn“ und reichten bis in die Gegenwart. Für mich war es zugleich auch der erste Besuch in unserem östlichen Nachbarland.

Blick von der Aussichtsplattform des Kulurpalastes im 30. Stockwerk auf Warschau

Blick auf Warschau von der Aussichtsplattform im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

Warschau im Jahre 2015 ist die boomende Hauptstadt Polens mit den üblichen großstädtischen Glaspalästen im Zentrum. Meine Eindrücke waren wie erwartet sehr kontrastreich und – natürlich – durch eigenes Vorwissen aus Büchern und Filmen geprägt. In Warschau erinnert auf den ersten Blick wenig an die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die Innenstadt wurde nach den beiden Aufständen, dem Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 und dem nationalpolnischen Warschauer Aufstand 1944, von den Nazis weitgehend dem Erdboden gleichgemacht. Im heutigen Stadtbild gibt es wenige Überreste, allerdings rekonstruierte historische Gebäude in der Altstadt, Museen, Denkmäler und Gedenksteine.

Symbolischer Friedhof in der Gedenkstätte Treblinka

Symbolischer Friedhof in der Gedenkstätte Treblinka

Zum Programm gehörte auch eine Fahrt in das ehemalige Vernichtungslager Treblinka, welches von den Nazis, nachdem es seine Aufgabe erfüllt hatte, komplett zerstört wurde. Übrig blieben die Massengräber der weit über 800 000 ermordeten Juden. Seit 1963 erinnert hier eine Gedenkstätte an die Ereignisse, seit 2010 besteht ein Museum mit einer Ausstellung, die den historischen Ort erklärt.

Kooperationspartner des Bildungswerks war Hartmut Ziesing, der nach langjährigen Erfahrungen in der Gedenkstättenarbeit in Polen und Deutschland Studienreisen organisiert. Auch seine polnischen Sprachkenntnisse waren uns während der Führung durch den Leiter der Gedenkstätte in Treblinka und in Gesprächen mit einer Zeitzeugin sehr hilfreich. Er wies uns zu Beginn des Seminars auch auf die Bedeutung des 23. August hin, an dem in Polen an den 1939 geschlossenen Molotow-Ribbentrop-Pakt erinnert wird. Dieser in Deutschland sachlich als deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt oder auch politisch konnotiert als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnete Vertrag kennzeichnete in seinem geheimen Zusatzprotokoll die Interessensphären beider Länder in Osteuropa und teilte – auch Polen – unter beiden Mächten auf.

Darstellung im Museum des Warschauer Aufstandes, das die Aufteilung Vorkriegspolens durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion im Jahre 1939 zeigt

Darstellung im Museum des Warschauer Aufstandes, das die Aufteilung Vorkriegspolens durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion im Jahre 1939 zeigt

Diese Teilung Polens während des zweiten Weltkrieges durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion begegnete uns in den besuchten Museen immer wieder. Sie besitzt für die polnische Geschichtsdarstellung der Zeit erkennbar einen hohen Stellenwert und bietet Anschlussfähigkeit zu nationalkonservativen und antikommunistischen Sichtweisen. Letztere begegnete uns auch immer wieder indem die Zeit zwischen 1945 und 1989 mit „im Kommunismus“ bezeichnet wurde.

Auch ein Relikt aus der Zeit des "Kommunismus" in Polen: Der Kulturpalast

Auch ein Relikt aus der Zeit des „Kommunismus“ in Polen: Der Kulturpalast im Zentrum Warschaus im Zuckerbäckerstil

Das jüdische Warschau und der Ghettoaufstand

Soweit ich mich erinnern kann hatte ich zum ersten Mal 1981 im Alter von 16 Jahren durch die Fernsehserie „Ein Stück Himmel“ nach den Erinnerungen von Janina David vom Warschauer Ghetto während der Besetzung Polens durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg erfahren. Heute handelt es sich bei dem Gebiet des ehemaligen Ghettos um eine normale Wohngegend, die sich nicht groß von Wohngegenden in anderen ehemals sozialistischen Staaten unterscheidet.

Markierung des ehemaligen Verlaufs der Ghetto-Mauer im Straßenpflaster

Markierung des ehemaligen Verlaufs der Ghetto-Mauer im Straßenpflaster

Das Ghetto, zuerst als „Sperrbezirk“ bezeichnet, umfasste das frühere jüdische Warschau. Es wurde durch eine Mauer umschlossen, Juden aus anderen Orten wurden hierhin deportiert und auf engstem Raum zusammengepfercht. Das Warschauer Ghetto wurde im Laufe der Zeit verkleinert und geteilt. Eine Holzbrücke verband den größeren nördlichen und den kleineren südlichen Teil. Heute gibt es einige wenige erhaltene bauliche Reste sowie gestaltete Erinnerungsorte. Zu ihnen gehören zum Beispiel die Markierung des Standortes der Ghetto-Mauer im Pflaster einiger Straßen sowie eine Erläuterung am ehemaligen Standort der Holzbrücke.

Ehemaliger Standort der Holzbrücke, die die beiden Teile des Warschauer Ghettos miteinander verband

Ehemaliger Standort der Holzbrücke, die die beiden Teile des Warschauer Ghettos miteinander verband

Wer nicht schon im Ghetto dem Hunger oder der Epidemien zum Opfer fiel, wurde in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka ermordet oder starb beim Ghetto-Aufstand 1943. An ihn erinnert ein großes Denkmal der Helden des Ghettos gegenüber des im Oktober 2014 neu eröffneten Museum der Geschichte der polnischen Juden. Das Denkmal für die Ghetto-Helden wurde unmittelbar nach dem Krieg inmitten des Ruinenfeldes errichtet. Es zeigt auf der Vorderseite die Ghetto-Kämpfer und auf der Rückseite das Leid und Elend im Ghetto. Dies ist auch der berühmte Ort des Kniefalls von Willy Brandt, der in einem eigenen, kleinen Denkmal festgehalten wird.

Denkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto

Denkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto

Weiter nördlich befindet sich ein Grabstein für die Ghetto-Kämpfer sowie ein Denkmal am ehemaligen „Umschlagplatz“. Schon die Bezeichnung des Platzes weist auf die Unmenschlichkeit der Nazis hin, die von hier aus Menschen in die Vernichtungslager deportierten.

Multimediale Darstellung im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Multimediale Darstellung im Museum der Geschichte der polnischen Juden

Das „Polin“, das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin – Muzeum Historii Zydow Polskich) zeigt in modernster multimedialer Darstellung die tausendjährige Geschichte der polnischen Juden. Ähnlich wie das Jüdische Museum in Berlin konzentriert es sich nicht allein auf die Vernichtung durch die Nazis, sondern zeigt die ganze Breite der tausendjährigen jüdischen Geschichte in Polen. Wer will, kann auch einen ironischen Bezug zum sogenannten „tausendjährigen Reich“ der Nazis herstellen, welches zum Glück nur 12 Jahre andauerte.
Die Geschichte der Juden in Polen wird dabei immer auch im Zusammenhang mit der übrigen polnischen Geschichte dargestellt, die über die Zeit der polnisch-litauischen Union, den drei polnischen Teilungen durch Preußen, Österreich und Russland und dem Wiedererstehen eines polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht.

Treblinka

Auch mit Treblinka verbinde ich eine mediale Erinnerung, dieses Mal aus dem Jahre 1985. Der Film „Sie sind frei, Doktor Korczak“, eine israelisch-deutsche Produktion aus dem Jahre 1974 mit Leo Genn in der Hauptrolle, beginnt mit der Suche durch eines der überlebenden Waisenkinder. Nach einer Wanderung entlang eines Schienenstranges erreicht er ein leeres Feld und fragt einen Bauer nach dem „deutschen Konzentrationslager Treblinka“. Der Bauer zeigt ins Gelände, und antwortet, dass es hier gewesen sei. Auch auf die Frage, wo all die Menschen hin sind, zeigt der Bauer wieder ins Gelände.

Erläuterungstafel der Gedenkstätte Treblinka

Erläuterungstafel der Gedenkstätte Treblinka

Die Fahrt nach Treblinka führte uns weit aus Warschau hinaus in eine sehr ländliche Gegend Polens. Unsere Besuchergruppe gehört zu den wenigen deutschen Besuchern dieses Ortes, der stark von israelischen bzw. jüdische Gruppen aus aller Welt besucht wird. Wir kamen in den Genuss einer persönlichen Führung durch den Leiter der Gedenkstätte, Herrn Edwart Kopowka, der uns den Ort zunächst anhand des Lagermodells im Museum und anschließend die Gedenkstätte selbst kenntnisreich und ausführlich erläuterte.

Seit 2010 besteht „Das Museum für Kampf und Märtyrertum in Treblinka“ (Muzeum Walki i Meczenstwa w Treblince) als Filiale des Regionalmuseums in Siedlce und erklärt in einer Ausstellung den Ort. In vier Teilen zeigt die Ausstellung den Kriegsbeginn 1939, die deutsche Besatzung und das Zwangsarbeitslager (Treblinka I), eine Ausstellung jüdischer Grabsteine, die von einem nahegelegenen Friedhof geholt als Straßenuntergrund verwendet worden waren sowie das Vernichtungslager (Treblinka II). Die in der Ausstellung gezeigten Fotos sind die einzigen, die von dem Vernichtungslager existieren.

Lagermodell im Museum der Gedenkstätte Treblinka

Lagermodell im Museum der Gedenkstätte Treblinka

Das Vernichtungslager Treblinka wurde in der Nähe eines gleichnamigen Zwangsarbeitslagers errichtet. Anders als andere Konzentrationslager diente es ausschließlich der Vernichtung. Alle deportierten Juden wurden innerhalb weniger Stunden in den Gaskammern ermordet und anschließend in Massengräbern verscharrt. Das Lager wurde im Frühling 1942 im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ errichtet und mit einer kleinen Lagermannschaft aus Deutschen, Österreichern und Ukrainern bemannt. Bis November 1943 wurden hier mehr als 800 000 Menschen aus Polen, Österreich, Belgien, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Deutschland und der Sowjetunion ermordet. Vor der Auflösung des Lagers wurden die Leichen der Ermordeten wieder ausgegraben und verbrannt. Das Lager wurde komplett zerstört und zur Tarnung ein Bauernhof errichtet.

Gedenkstätte Treblinka mit der symbolischen Eisenbahnrampe

Gedenkstätte Treblinka mit der symbolischen Eisenbahnrampe

Auf dem Gebiet des ehemaligen Lagers wurde 1959 bis 1963 eine Gedenkstätte nach den Entwürfen der drei Kunstprofessoren Adam Haupt, Franciszek Duszenko und Franciszek Strynkiewicz errichtet, die das Lager symbolisieren. Zur Gedenkstätte gehören unter anderem ein symbolisches Lagertor, eine symbolische Eisenbahnrampe und ein symbolischer Ort der Leichenverbrennung. Gedenksteine erinnern an die (teilweise ehemaligen) Länder, aus denen die Ermordeten stammten. Mit „Mazedonien“ ist nach dem Zerfall Jugoslawiens ein weiterer Stein neu hinzugekommen.

17 000 Grabsteine über den Massengräbern symbolisieren die Anzahl der Menschen, die an einem Tag ermordet wurden

17 000 Grabsteine über den Massengräbern symbolisieren die Anzahl der Menschen, die an einem Tag ermordet wurden

Über den damals bekannten Massengräbern wurde ein Denkmal mit 17 000 unterschiedlich großen Grabsteinen geschaffen. Die Zahl erinnert an die Zahl der pro Tag ermordeten. Einige Grabsteine sind beschriftet und erinnern an jüdische Ghettos. Das von den Nazis zur Tarnung errichtet Bauernhaus ist im Wald vorhanden, durch die Gedenkstätte aber nicht erschlossen.

Der einzige personenbezogene Grabstein auf dem Gebiet des symbolischen Friedhofs in Treblinka für Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) und die Kinder

Der einzige personenbezogene Grabstein auf dem Gebiet des symbolischen Friedhofs in Treblinka für Janusz Korczak (Henryk Goldszmit) und die Kinder

Sehr berührt hat mich der einzige personenbezogene Grabstein für Janusz Korczak und die Kinder. Der Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak wurde zusammen mit seinen Waisenkindern aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka deportiert und hier Anfang August 1942 ermordet.

Symbolischer Ort der Leichenverbrennung

Symbolischer Ort der Leichenverbrennung

Auf mich wirkte der Ort ruhig und still, mit dem Wissen um seine Geschichte totenstill und unheimlich.

Warschauer Aufstand

Zeigt das „Polin“, das Museum der Geschichte der polnischen Juden die tausendjährige Geschichte der polnischen Juden, so konzentriert sich das Museum des Warschauer Aufstands (Muzeum Powstania Warszawskiego) auf die 63 Tage des Warschauer Aufstands 1944 sowie der Vor- und Nachgeschichte des Ereignisses. Eine Karte (weiter oben im Beitrag abgebildet) weist wieder auf die für Polen so bedeutsame Aufteilung durch Nazi-Deutschland und die Sowjetunion hin. Die Karte zeigt das Polen in den Grenzen von 1939 dreigeteilt: in das von Nazi-Deutschland annektierte Gebiet im Westen, das deutsch beherrschte „Generalgouvernement“ und das von der Sowjetunion annektierte Gebiet im Osten. Auch diese Museumsausstellung ist multimedial gestaltet. Eine große Attraktion ist ein Nachbau einer B-24J neben zahlreichen Fotos, Filmen, Uniformen und anderen Ausstellungsstücken.

Ausstellung der Uniformen im Museum des Warschauer Aufstandes

Ausstellung der Uniformen im Museum des Warschauer Aufstandes

An der Führung durch die Ausstellung in englischer Sprache schloss sich ein Gespräch mit einer Zeitzeugin an. Frau Hana Stadnik, 1929 als Hana Sikorska geboren und mit 15 Jahren als Sanitäterin am Warschauer Aufstand beteiligt, erzählte von ihren Erlebnissen und beantwortete zahlreiche unserer Fragen. So entstand ein Bild der Zeit, dass mit dem Kriegsbeginn 1939 und dem Bombardement Warschaus durch die deutsche Luftwaffe begann. Sie erzählte vom Untergrundstaat, dem illegal organisierten Schulbesuch und der Ausbildung zur Sanitäterin, bis hin zur Niederlegung der Waffen am Ende des aussichtslosen Aufstandes 1944. Nach dem Krieg wurden die am Aufstand Beteiligten diskriminiert, Frau Stadnik musste ihr begonnenes Studium aufgeben, weil sie am Warschauer Aufstand beteiligt gewesen ist. Sie klang dennoch nicht verbittert, sondern berichtete, wie viele Kinder, und Enkel- und Urenkelkinder sie habe, einige leben in Schweden und in den USA. Für die Teilnahme am Aufstand und den Folgen ist sie übrigens nie entschädigt worden.

Denkmal an den Warschauer Aufstand 1944

Denkmal an den Warschauer Aufstand 1944

Der Warschauer Aufstand und die von einigen Teilnehmern als einseitig national-konservativ kritisierte Darstellung im Museum wurde bis in die Abschlussrunde hinein kontrovers diskutiert. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft auf die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ in Berlin hinweisen, die inzwischen die Breite des deutschen Widerstandes gegen die Nazis darstellt, nachdem sie sich jahrzehntelang ausschließlich auf den national-konservativen Widerstand des 20. Juli konzentriert hatte. Lassen wir der polnischen Zivilgesellschaft doch die Zeit, eine ausgewogene Position zu finden.

Das Erbe der Geschichte

In der im Gebäude des Finanzministeriums beheimateten Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung (Fundacja Polsko-Niemieckie Pojednanie) informierte uns der Leiter der Bildungsabteilung, Herr Deka, über die Entstehung der Stiftung in den 1990er Jahren im Rahmen der Entschädigung der Zwangsarbeiter durch deutsche Firmen, die sich vor Sammelklagen Überlebender in den USA und ihren Investitionen dort fürchteten. Zu den vorrangigen Aufgaben der Stiftung gehörte damals die Ermittlung der Daten Betroffener solange sie noch lebten. Er erläuterte den – wie ich finde – interessanten Unterschied zwischen Entschädigung und Leistung und den mit der Annahme der „Leistung“ verbundenen Verzicht auf weitere Forderungen. Man kann daraus zu Recht schließen, dass es den deutschen Firmen mehr um die eigene Rechtssicherheit als um eine Verpflichtung aus der Vergangenheit ging. Aus dem damals ermittelten Datenbestand der ehemaligen Zwangsarbeiter ist heute die über das Internet zugänglichen Datenbank entstanden.

Nach dem Zeitzeugengespräch signierte Ariel Yahalomi noch Exemplare seiner Erinnerungen, die er unter dem Titel "Ich habe überlebt" in polnisch und englisch veröffentlicht hat

Nach dem Zeitzeugengespräch signierte Ariel Yahalomi noch Exemplare seiner Erinnerungen, die er unter dem Titel „Ich habe überlebt“ in polnisch und englisch veröffentlicht hat

Anschließend fand im gleichen Gebäude ein Gespräch mit Herrn Ariel Yahalomi statt, der im polnischen Teil Oberschlesiens unter dem Namen Artur Dimant geboren wurde und zahlreiche Lager der Nazis überlebte. Er wanderte nach dem Krieg nach Israel aus, änderte seinen Namen und führte ein ganz neues Leben, bis ihn die Geschichte wieder einholte. Heute lebt er aus gesundheitlichen Gründen, aber auch weil er als Zeitzeuge gebraucht wird und sich gebraucht fühlt, in den Sommermonaten in Polen und in den Wintermonaten in Israel. Mit seiner Frau Krystyna Keren verbindet ihn die Geschichte, sie wurde im Warschauer Ghetto geboren und überlebte in einer polnischen Familie.

Gedanken zum Schluß

Wer heute als Deutscher nach Polen fährt, muss sich selbstverständlich keine persönliche oder kollektive Schuld anrechnen lassen. Selbst die Denkmäler und Zeitzeugen zeigen sich oft sehr rücksichtsvoll mit unserer Vergangenheit und schreiben oder sprechen von Nazis oder Besatzern und nur sehr selten von Deutschen. Diese Vergangenheit liegt inzwischen mehr als 70 Jahre zurück und wird in Polen erkennbar von der Zeit danach, die man dort „den Kommunismus“ nennt, überlagert. Für mich war es der erste Besuch in Polen und ich hatte im Umfeld des Seminars viele Gelegenheiten, Polen und Warschau heute kennen zu lernen. Ich schließe mit einem Fundstück, den ein unbekannter Besucher auf der Aussichtsetage des Kulturpalastes, auch einem Erbe der „Kommunisten“, hinterlassen hat. Dieser Kulturpalast feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag und trägt eigentlich den Namen Kultur- und Wissenschaftspalast (Palac Kultury i Nauki). Das „Geschenk Stalins an Polen“ ist auch heute noch ein Wahrzeichen der Stadt.

Fundstück in der Aussichtsetage im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

Fundstück in der Aussichtsetage im 30. Stockwerk des Kulturpalastes

24. April 1915 – Beginn des Völkermords an den Armeniern

Das hier ursprünglich verlinkte YouTube-Video wurde aufgrund von Urheberrechtsverletzungen gelöscht. Die 90minütige, 2010 für den NRD produzierte Dokumentation "Aghet" ist seit 2011 auf DVD-Video erhältlich.

Das hier ursprünglich verlinkte YouTube-Video wurde aufgrund von Urheberrechtsverletzungen gelöscht. Die 90minütige, 2010 für den NDR produzierte Dokumentation „Aghet“ ist seit 2011 auf DVD-Video erhältlich.

Im vergangenen Jahr stand die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges hundert Jahre zuvor im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. „Runde“ Gedenktage bieten die Chance auf erhöhte Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit, bieten die Möglichkeit, nicht nur an zurückliegende Ereignisse zu erinnern, sondern über ihre Bedeutung und Auswirkung für die Gegenwart nachzudenken.

In diesem Jahr vor hundert Jahren befand sich die Welt noch immer im Ersten Weltkrieg. An die Seite des Deutschen Kaiserreiches und Österreich-Ungarns war bereits seit Ende 1914 das Osmanische Reich in den Weltkrieg eingetreten. Es umfasste zum damaligen Zeitpunkt nach jahrhundertelangem Abstieg ungefähr das Territorium der heutigen Türkei sowie das Syriens, des Iraks, Jordaniens, des Libanons, Israels und Palästinas. Das Osmanische Reich war ein multiethnischer Staat, in dem neben den herrschenden muslimischen Türken seit Jahrhunderten nationale und religiöse Minderheiten lebten, neben muslimischen Türken und Kurden auch christliche Armenier. Christen galten als Bürger zweiter Klasse und mussten beispielsweise höhere Steuern als Muslime zahlen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte es Pogrome gegen Armenier gegeben.

Am 24. April 1915, heute vor hundert Jahren, begann der Völkermord mit der Verhaftung und Deportation der armenischen Elite aus der Hauptstadt Konstantinopel. Dieser Tag wird in der Republik Armenien, die aus der ehemaligen armenischen Sowjetrepublik gebildet wurde, als Genozid-Gedenktag begangen. Die Armenier selbst bezeichnen den Völkermord als „Aghet“, als Katastrophe. Der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, die Türkische Republik, bestreitet bis heute dass es sich um einen Völkermord gehandelt habe, obwohl die Massaker und Todesmärsche durch umfangreiches dokumentarisches Material unter anderem auch im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes belegt sind und weltweit die meisten Historiker den Völkermord als historische Tatsache ansehen.

Zu den Ursachen des Genozids gehörten der sich am Vorbild der europäischen Nationalstaaten orientierende erwachende Nationalismus und soziale Gegensätze zwischen Armeniern, Kurden und Türken. Mit dem Staatsstreich der „Jungtürken“ um Enver Pascha, Talat Pascha und Cemal Pascha 1913 gewannen nationalistische und pantürkische Vorstellungen die Oberhand in der Regierung. Nach dem Kriegseintritt und militärischen Niederlagen gegen die russische Armee im Kaukasus 1914/15 sowie dem Vordringen russischer Truppen auf osmanisches Gebiet machte die türkische Führung „die Armenier“ kollektiv verantwortlich und nahm die Bedrohung durch die russische Armee zum Anlass die armenische Bevölkerung auch aus frontfernen Gebieten zu deportieren. Ein Aufstand der Armenier in der Stadt Van im April 1915 diente dabei als willkommene Rechtfertigung.

Das Muster der Ereignisse erinnert an heute bekannte „ethnische Säuberungen“ bzw. Völkermorde: Die armenische Bevölkerung, falls sie nicht zum Islam übertrat, musste kurzfristig ihre Habe weit unter Wert verkaufen oder ganz zurücklassen und ihren Wohnort zu Fuß oder in Eisenbahnwaggons zusammengedrängt verlassen. Sie wurde zunächst an einigen Orten konzentriert und dann auf wochenlange Todesmärsche in die Wüste geschickt. Männer und Frauen wurden getrennt, Männer – zum Teil bestialisch – ermordet, Mädchen und Frauen ausgeraubt, vergewaltigt, verkauft, ermordet, Kinder entführt und islamisiert. Zurückgelassene Habe der Deportierten wurde von den Nachbarn geplündert oder per Gesetz enteignet. Schulen, Kirchen und Klöster wurden geplündert, zerstört oder in Moscheen umgewandelt; die westarmenische Kultur komplett ausgelöscht.

Das deutsche Kaiserreich, der Verbündete des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg, verzichtete auf eine Einflussnahme, um, wie es Reichskanzler von Bethmann-Hollweg ausdrückte, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Deutschland machte sich damit mitschuldig am Völkermord.

Wer sich heute mit den Dokumenten der Zeit beschäftigt, wird überrascht sein, wie viele Zeugenberichte vorliegen. Im Dokumentarfilm „Aghet – Ein Völkermord“, den Eric Friedler 2010 für den NDR produzierte, wurde eine kleine Auswahl schriftlicher Berichte von Zeitzeugen durch Schauspieler nachgesprochen. Viele Dokumente befinden sich in Deutschland im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Sie enthalten zahlreiche Berichte von Diplomaten, Militärbeobachtern, Missionaren, medizinischem Personal, Journalisten, Ingenieuren etc., die damals nicht für die Öffentlichkeit, sondern zur Unterrichtung der deutschen Stellen verfasst wurden. Weitere Dokumente lagern u.a. im Österreichischen Staatsarchiv in Wien, im Geheimarchiv des Vatikan und in US-amerikanischen Archiven. Augenzeugenberichte stammen u.a. von Missionaren aus Dänemark, der Schweiz und den Niederlanden sowie von Überlebenden.

Die türkische Regierung leugnet nicht nur den Völkermord, sondern setzt bis in die Gegenwart diplomatische Mittel ein, um eine Anerkennung des Völkermords durch andere Länder zu verhindern. Die Bevölkerung ist da schon weiter. Nach der Ermordung des Journalisten Hrant Dink durch einen 17jährigen, der seine türkische Ehre beleidigt fühlte, demonstrierten 200.000 Türken anlässlich der Beerdigung des Journalisten in Istanbul mit Schildern „Ich bin ein Armenier“. Angesichts dessen ist der jüngste diplomatische Eiertanz der deutschen Bundesregierung einfach nur unsäglich peinlich. Diese stellt sich damit in die Tradition der kaiserlichen Reichsregierung von 1915, die einen wichtigen Verbündeten nicht öffentlich bloßstellen wollte und dafür einen Völkermord in Kauf nahm.

Quellen:
Völkermord an den Armeniern, https://de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern
Gust, Wolfgang (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005

„Nach Polen abgemeldet“

Hier wohnte Familie Krämer …

Ein aufgrund der nachfolgenden Reichspogromnacht weitgehend vergessenes Ereignis ist die „Polenaktion“ genannte Zwangsausweisung von rund 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Diese wurden zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 in einer Nacht- und Nebel-Aktion im damaligen Deutschen Reich verhaftet und nach Polen abgeschoben. Die Aktion bezeichnete für zwei Wochen einen neuen, unfassbaren und scheinbar nicht mehr steigerungsfähigen Höhepunkt der Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes gegen Juden. Unter den Ausgewiesenen befanden sich auch die Eltern von Herschel Grynszpan, dessen Attentat auf den Botschaftssekretär in Paris den Nazis als Vorwand für die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dienten, die der Volksmund als „Reichskristallnacht“ bezeichnete und die den früheren Höhepunkt der Diskriminierung schnell ins Vergessen geraten ließ.

In Gelsenkirchen betraf die Aktion auch die Familie Krämer, die zu diesem Zeitpunkt in der Von-der-Recke-Straße 10 wohnte. Zur Familie gehörten der Familienvater, Selig Uscher Krämer, der zum Zeitpunkt seiner Verhaftung kurz vor seinem 44. Geburtstag stand, seine 38jährige Frau Perla Krämer sowie die beiden Kinder, der 12jährige Max und die 5jährige Charlotte. Vater Krämer und seine Frau stammten aus Otynia in Galizien (Südpolen), ihr Sohn Max war noch dort am 3. März 1926 geboren worden. 1930 kamen sie aus Rotterdam nach Gelsenkirchen, wo am 12. Januar 1933 Tochter Charlotte geboren wurde. Wie auf der Seite von Gelsenzentrum e.V. nachzulesen ist, wurde Selig Uscher Krämer am 28. Oktober 1938 nach Zbazyn in Polen abgeschoben, während Frau und Kinder in das sogenannte „Judenhaus“ an der damaligen Hindenburgstraße 38 (heute Husemannstraße) übersiedeln mussten.

Der polnische Historiker Jerzy Tomaszewski geht in „Auftakt zur Vernichtung“ (Osnabrück 2002) davon aus, dass die Ausweisung im Allgemeinen überall ähnlich ablief, viele Einzelheiten hingegen von den Lokalbehörden abhingen. So wurden in einigen Orten ganze Familien ohne Rücksicht auf das Alter und den Gesundheitszustand der Familienangehörigen ausgewiesen, während in anderen Orten nur die Männer verhaftet wurden. Manche wurden mitten in der Nacht von Gestapo, SA oder SS aus ihren Wohnungen gescheucht und im Nachthemd mitgenommen, anderen wurde es erlaubt, ein wenig Handgepäck und Lebensmittel mitzunehmen. An Bargeld durfte aufgrund der Devisenbestimmungen pro Person maximal 10 Reichsmark mitgenommen werden. Die Verhafteten wurden auf Polizeiposten oder in Gefängnissen, Turnhallen, Synagogen, Kasernen oder anderen Gebäuden untergebracht und nach Stunden zur Abfahrt der Sonderzüge zum Bahnhof gebracht. In der Mehrzahl handelte es sich bei den Ausgewiesenen um kleine Leute, Händler, Handwerker, Freiberufler, Arbeiter, die schon länger im Deutschen Reich lebten und deren Verbindung zum polnischen Staat oft nur formeller Art war.

Die Abschiebung über die polnische Grenze erfolgte unter denselben katastrophalen Bedingungen wie die gesamte Aktion. Die Richtung der Transporte ergab sich aus der Streckenführung des Eisenbahnnetzes und traf auf kleine Grenzübergänge, die dem Ansturm nicht gewachsen waren. Daneben wurden Gruppen von Juden unter Zurücklassung der wenigen Gepäckstücke, die sie besaßen, und unter Umgehung aller Passformalitäten über die grüne Grenze gejagt. Die größte Anzahl Menschen wurde über den Grenzübergang Bentschen nach Polen abgeschoben, wo die überforderten polnischen Behörden sie zunächst in Eisenbahnwaggons festgehalten und in ehemaligen Kasernen und Ställen untergebracht haben. Zeitzeugen berichten von chaotischen Zuständen. Einem Teil der Ausgewiesenen ist es dort gelungen, sich mit Freunden oder Verwandten in Verbindung zu setzen und nach Zentralpolen weiter zu reisen, die meisten mussten jedoch auf Beschluss der polnischen Regierung bleiben und wurden in Bentschen interniert. Schätzungsweise wurden über 9.000 Menschen über Bentschen aus Deutschland ausgewiesen, ungefähr 2.000 von ihnen konnten weiter reisen, während über 7.000 dort bleiben mussten. Weitere Schätzungsweise 6.000 Menschen gelangten per Bahn oder über die grüne Grenze in der Gegend von Beuthen über die schlesisches Grenze und konnten von dort aus kostenlos mit der Bahn ins Landesinnere weiter fahren. Hilfen für die Ausgewiesenen erfolgten durch jüdische Hilfskomitees.

Zwischen dem Dritten Reich und Polen begannen diplomatische Verhandlungen über das Schicksal der Ausgewiesenen wie der noch in Deutschland befindlichen Familienmitglieder und weitere Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die keiner der beiden Staaten aufnehmen wollte. Die deutsche Seite setzte ihre Position durch, nach der die Ausgewiesenen noch einmal an ihren früheren Wohnort zurückkehren konnten, um mit ihren Familien, persönlichen Gegenständen, evtl. der Wohnungs- oder Werkstatteinrichtung nach Polen auszureisen. Die Kosten mussten die Betroffenen selbst tragen. 3.632 Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch und reisten ein letztes Mal an ihren früheren Wohnort, um ihr altes Leben dort aufzulösen. Insgesamt 3.666 Frauen und Kinder der abgeschobenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit reisten mit ihnen mit aus Deutschland aus.

Zu ihnen gehörte auch Vater Krämer, der, wie auf der Seite von Gelsenzentrum e.V. nachzulesen ist, am 13. April 1939 vorübergehend nach Gelsenkirchen zurückkehrte. Die ganze Familie Krämer wurde dann im Mai 1939 in den Einwohnermeldeunterlagen der Stadt „nach Polen abgemeldet“.

Keine 4 Monate später, am 1. September 1939, entfesselte Nazi-Deutschland mit seinem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Die Spuren der in Polen gebliebenen ausgewiesenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen dort errichteten Ghettos. Zu vielen Opfern der „Polenaktion“ lassen sich jedoch bis heute keine genauen Aussagen treffen, ihre Schicksale bleiben nach dem heutigen Kenntnisstand ungewiss. Dies betrifft auch das weitere Schicksal der Familie Krämer. Ihre Spur verliert sich im Mai 1939, als sie Gelsenkirchen verlassen mussten.