„Nach Polen abgemeldet“

Hier wohnte Familie Krämer …

Ein aufgrund der nachfolgenden Reichspogromnacht weitgehend vergessenes Ereignis ist die „Polenaktion“ genannte Zwangsausweisung von rund 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit. Diese wurden zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 in einer Nacht- und Nebel-Aktion im damaligen Deutschen Reich verhaftet und nach Polen abgeschoben. Die Aktion bezeichnete für zwei Wochen einen neuen, unfassbaren und scheinbar nicht mehr steigerungsfähigen Höhepunkt der Diskriminierungsmaßnahmen des NS-Regimes gegen Juden. Unter den Ausgewiesenen befanden sich auch die Eltern von Herschel Grynszpan, dessen Attentat auf den Botschaftssekretär in Paris den Nazis als Vorwand für die Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dienten, die der Volksmund als „Reichskristallnacht“ bezeichnete und die den früheren Höhepunkt der Diskriminierung schnell ins Vergessen geraten ließ.

In Gelsenkirchen betraf die Aktion auch die Familie Krämer, die zu diesem Zeitpunkt in der Von-der-Recke-Straße 10 wohnte. Zur Familie gehörten der Familienvater, Selig Uscher Krämer, der zum Zeitpunkt seiner Verhaftung kurz vor seinem 44. Geburtstag stand, seine 38jährige Frau Perla Krämer sowie die beiden Kinder, der 12jährige Max und die 5jährige Charlotte. Vater Krämer und seine Frau stammten aus Otynia in Galizien (Südpolen), ihr Sohn Max war noch dort am 3. März 1926 geboren worden. 1930 kamen sie aus Rotterdam nach Gelsenkirchen, wo am 12. Januar 1933 Tochter Charlotte geboren wurde. Wie auf der Seite von Gelsenzentrum e.V. nachzulesen ist, wurde Selig Uscher Krämer am 28. Oktober 1938 nach Zbazyn in Polen abgeschoben, während Frau und Kinder in das sogenannte „Judenhaus“ an der damaligen Hindenburgstraße 38 (heute Husemannstraße) übersiedeln mussten.

Der polnische Historiker Jerzy Tomaszewski geht in „Auftakt zur Vernichtung“ (Osnabrück 2002) davon aus, dass die Ausweisung im Allgemeinen überall ähnlich ablief, viele Einzelheiten hingegen von den Lokalbehörden abhingen. So wurden in einigen Orten ganze Familien ohne Rücksicht auf das Alter und den Gesundheitszustand der Familienangehörigen ausgewiesen, während in anderen Orten nur die Männer verhaftet wurden. Manche wurden mitten in der Nacht von Gestapo, SA oder SS aus ihren Wohnungen gescheucht und im Nachthemd mitgenommen, anderen wurde es erlaubt, ein wenig Handgepäck und Lebensmittel mitzunehmen. An Bargeld durfte aufgrund der Devisenbestimmungen pro Person maximal 10 Reichsmark mitgenommen werden. Die Verhafteten wurden auf Polizeiposten oder in Gefängnissen, Turnhallen, Synagogen, Kasernen oder anderen Gebäuden untergebracht und nach Stunden zur Abfahrt der Sonderzüge zum Bahnhof gebracht. In der Mehrzahl handelte es sich bei den Ausgewiesenen um kleine Leute, Händler, Handwerker, Freiberufler, Arbeiter, die schon länger im Deutschen Reich lebten und deren Verbindung zum polnischen Staat oft nur formeller Art war.

Die Abschiebung über die polnische Grenze erfolgte unter denselben katastrophalen Bedingungen wie die gesamte Aktion. Die Richtung der Transporte ergab sich aus der Streckenführung des Eisenbahnnetzes und traf auf kleine Grenzübergänge, die dem Ansturm nicht gewachsen waren. Daneben wurden Gruppen von Juden unter Zurücklassung der wenigen Gepäckstücke, die sie besaßen, und unter Umgehung aller Passformalitäten über die grüne Grenze gejagt. Die größte Anzahl Menschen wurde über den Grenzübergang Bentschen nach Polen abgeschoben, wo die überforderten polnischen Behörden sie zunächst in Eisenbahnwaggons festgehalten und in ehemaligen Kasernen und Ställen untergebracht haben. Zeitzeugen berichten von chaotischen Zuständen. Einem Teil der Ausgewiesenen ist es dort gelungen, sich mit Freunden oder Verwandten in Verbindung zu setzen und nach Zentralpolen weiter zu reisen, die meisten mussten jedoch auf Beschluss der polnischen Regierung bleiben und wurden in Bentschen interniert. Schätzungsweise wurden über 9.000 Menschen über Bentschen aus Deutschland ausgewiesen, ungefähr 2.000 von ihnen konnten weiter reisen, während über 7.000 dort bleiben mussten. Weitere Schätzungsweise 6.000 Menschen gelangten per Bahn oder über die grüne Grenze in der Gegend von Beuthen über die schlesisches Grenze und konnten von dort aus kostenlos mit der Bahn ins Landesinnere weiter fahren. Hilfen für die Ausgewiesenen erfolgten durch jüdische Hilfskomitees.

Zwischen dem Dritten Reich und Polen begannen diplomatische Verhandlungen über das Schicksal der Ausgewiesenen wie der noch in Deutschland befindlichen Familienmitglieder und weitere Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die keiner der beiden Staaten aufnehmen wollte. Die deutsche Seite setzte ihre Position durch, nach der die Ausgewiesenen noch einmal an ihren früheren Wohnort zurückkehren konnten, um mit ihren Familien, persönlichen Gegenständen, evtl. der Wohnungs- oder Werkstatteinrichtung nach Polen auszureisen. Die Kosten mussten die Betroffenen selbst tragen. 3.632 Personen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch und reisten ein letztes Mal an ihren früheren Wohnort, um ihr altes Leben dort aufzulösen. Insgesamt 3.666 Frauen und Kinder der abgeschobenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit reisten mit ihnen mit aus Deutschland aus.

Zu ihnen gehörte auch Vater Krämer, der, wie auf der Seite von Gelsenzentrum e.V. nachzulesen ist, am 13. April 1939 vorübergehend nach Gelsenkirchen zurückkehrte. Die ganze Familie Krämer wurde dann im Mai 1939 in den Einwohnermeldeunterlagen der Stadt „nach Polen abgemeldet“.

Keine 4 Monate später, am 1. September 1939, entfesselte Nazi-Deutschland mit seinem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Die Spuren der in Polen gebliebenen ausgewiesenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen dort errichteten Ghettos. Zu vielen Opfern der „Polenaktion“ lassen sich jedoch bis heute keine genauen Aussagen treffen, ihre Schicksale bleiben nach dem heutigen Kenntnisstand ungewiss. Dies betrifft auch das weitere Schicksal der Familie Krämer. Ihre Spur verliert sich im Mai 1939, als sie Gelsenkirchen verlassen mussten.