Archiv für den Monat September 2011

„Soziale Konflikte werden ethnisiert“

Eine frühere Veröffentlichung aus dem Jahre 2002 – eine empirische Studie über NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns.

Klaus Ahlheim beschäftigt sich in seinem neuesten Buch mit Thilo Sarrazins Schrift „Deutschland schafft sich ab“ und den dahinter liegenden fremdenfeindlichen Vorurteilen, tief sitzenden Ressentiments und einer bei allen anderen Sarrazin-Kritikern übersehenen neuen Lust, auf Deutschland stolz zu sein. Die Aussage, „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, jahrzehntelang in Deutschland ein Item zur Messung von Rechtsextremismus, ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. „Sarrazin und der Extremismus der Mitte“ titelt Ahlheim folgerichtig seine neue Veröffentlichung.

An Beispielen zeigt Ahlheim die deutschnationale Sichtweise des „Sozialdemokraten“ Sarrazin auf, dessen biologistische Gesellschaftsauffassung an nationalsozialistische Wissenschaftler erinnere. Anhand bereits früher veröffentlichter und aktualisierter empirischer Analysen erläutert Ahlheim wieder einmal, dass rechtsextreme Einstellungen keineswegs ein Problem arbeitsloser, junger ostdeutscher Männer, sondern in allen Bevölkerungsschichten, bei Wählern der CDU wie der Die Linke, anzutreffen sind.

Glücklicherweise – wie ich finde – geht Ahlheim nur im ersten Beitrag der Aufsatzsammlung auf Sarrazins Buchveröffentlichung ein. Dem Gehalt – nicht der Wirkung – der Sarrazin-Schrift wird dadurch genüge getan. In den weiteren Beiträgen lässt Ahlheim Sarrazin und seine ebenso kruden wie gefährlichen Thesen rechts liegen und widmet sich weiteren empirischen Analysen über rechtsextreme Einstellungen in Deutschland wie in Europa und der Frage, wie politische Bildung auf rechtsextreme Einstellungen reagieren kann.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Verschiebungen im „Charakter“ fremdenfeindlicher Einstellungen in den letzten Jahren, die Ahlheim beobachtet. So nahm in den Befragungen die Zustimmung zu Abwehrwünschen von Asylbewerbern und Flüchtlingen ab, während die Zustimmung zu einer stärkeren Integration der Eingewanderten zunahm. Dies lässt sich aus der schlichten Tatsache erklären, dass kaum noch Flüchtlinge die abgeschottete „Festung Europa“ erreichen. Andererseits tritt dadurch die Integrationsleistung der bereits Eingewanderten stärker in das Blickfeld, deren größter Unterschied häufig in der anderen Religion besteht. Es verwundert daher nicht, dass Rechtsextreme Stimmung mit Islamophobie und gegen Moscheebauten machen.

Die Ursachen fremdenfeindlicher Vorstellungen liegen jedoch nicht in einer drohenden Überfremdung, sondern, so Ahlheim weiter, in einer unübersichtlich gewordenen, globalisierten Welt, die Abstiegsängste befördere, permanente Flexibilität fordere und Unsicherheiten zumute; in der Erfahrung politischer, sozialer und ökonomischer Ohnmacht. Das Vorurteil böte der eigenen Psyche Erleichterung, in dem man die „Schuld“ einem Sündenbock zuschieben könne. So führt Ahlheim aus: „Die Ethnisierung politisch-sozialer Konflikte ist … willkommen … und von den Gewinnern des ökonomischen Umwälzungsprozesses (gewollt, um) von den eigentlichen Ursachen der politischen Misere, der öffentlichen Armut, des Sozialabbaus, um von ökologischen und militärischen Risiken aktueller Politik abzulenken…“ (S. 29f.)

Politische Bildung gegen Rechts kann daher kaum als „Feuerwehr“ in sozialpädagogischer, „akzeptierender Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen“ erfolgreich sein. Politische Bildung muss sich der unübersichtlich gewordenen Welt stellen, sie durchschaubar, begreifbar und gestaltbar machen. Hierbei können, so ist Ahlheim überzeugt, selbst Denkperspektiven subjektiv befreiend sein.

Ahlheim, Klaus: Sarrazin und der Extremismus der Mitte. Empirische Analysen und pädagogische Reflexionen, Hannover : Offizin-Verl., 2011

Gedenkfeier für die Opfer von Krieg und Faschismus

VVN-Mahnmal-Inschrift Stadtgarten GelsenkirchenRede von Pfarrer im Ruhestand, Dr. Rolf Heinrich

1. September 2011

Wir stehen hier am Mahnmal für die Opfer von Krieg und Faschismus.

Wir stehen hier gegen das Vergessen, denn die Erinnerung ist die Kraft der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens.

Starke Arme hat die Erinnerung.

Wer sich an Unrecht und Gewalt erinnert, wer nicht vergisst, der spürt, dass die Opfer schmerzhaft gegenwärtig sind.

Wer sich erinnert, der kann aus dem, was geschehen ist, lernen.

Erinnerung aber ist kein Heilmittel an sich, sie kann belasten und entlasten, sie kann verharmlosen und verschweigen, sie kann versklaven und befreien.

Erinnerung kann heilen, sie kann zur Kraft der Versöhnung werden, ohne Unrecht zu vergessen und ohne neues Leiden zu produzieren.

„Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual“, sagt Erich Fried.

Zerstampft des Unrechts Drachensaat. Zerstört den Hass von Staat zu Staat. Versenkt die Waffen in Gewässern.“ heißt es im Gedicht in der Mitte des Denkmals.

Wer sich an die Opfer von Unrecht und Krieg erinnert, der wird ermutigt, aufzustehen und zu kämpfen für Frieden, Abrüstung und Demokratie.

Wir gedenken der Opfer, sie sind gegenwärtig.

Das Wort „Opfer“ verallgemeinert, was nicht zu verallgemeinern ist.

Denn hinter dem Wort „Opfer“ stehen einmalige Menschen, deren Würde missachtet wurde, weil ihnen das Recht auf den eigenen Tod genommen wurde.

Hinter dem Wort „Opfer“ tauchen Namen, Gesichter, Lebensgeschichten, Träume und Sehnsüchte von Menschen auf. Jeden dieser Menschen gab es nur ein einziges Mal auf dieser Erde. Jeder Mensch, jedes Leben ist ein Heiligtum, der Tempel Gottes.

Wie wertvoll, wie schützenswert ist dieses einmalige Leben!

Die Opfer sind gegenwärtig.

In der Stille denken wir an sie.

Die Opfer mahnen uns: Kein Mensch sollte auf den Wegen seines Lebens geopfert werden oder zum Opfer verführt werden: nicht für das Vaterland, nicht für die Arbeit, nicht für den technischen Fortschritt, nicht für die Religion oder wie die Götter und Götzen einer Zeit nur heißen mögen.

Und doch auch hier gilt, dass das Leben  vielfältiger und komplizierter ist, als ich es haben möchte: Es gibt Menschen, die aus Liebe und Solidarität eigene Lebensziele aus freier Entscheidung aufgeben.

Es gibt Menschen, die aus Nähe und Liebe zu anderen Menschen ihr Leben opfern, wie der Kinderarzt Janusz Korczak, der 1942 mit seinen jüdischen Waisenkindern freiwillig in das Konzentrationslager Treblimka, in die Gaskammer und in den Tod ging.

Und doch gilt zugleich: Kein Mensch sollte auf den Wegen seines Lebens geopfert werden.

Menschen aber werden nachwievor tagtäglich zu Opfern: Sie werden geopfert aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Machtinteressen.

Weltweit werden Menschen zum Töten und Getötet werden auf die Jagd geschickt um des Geldes und der Vermehrung des Geldes willen.

Das deutsche Wort Geld bedeutet von seiner Herkunft her Opfer.

Die Wurzel allen Übels, aller Kriege und Gewalttaten ist die Habgier und Profitgier heißt es in der Bibel, weil sie die Beziehungen der Menschen untereinander zerstört, indem andere ausgenutzt und ausgebeutet werden, anstatt solidarisch zu teilen.

Der persönlichen Habgier entspricht die Struktur einer Gesellschaft, die in der die Steigerung der Profitrate ihr einziges Ziel und ihren Sinn sieht.

Frieden und soziale Gerechtigkeit aber gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

Wir stehen hier an einem Mahnmal.

Wir selbst, jede und jeder von uns ist ein lebendiges Mahnmal.

Es liegt auch an uns, was aus dieser Welt wird.

Wir sind nicht hilflos dem ausgeliefert, was in unserer Gesellschaft geschieht.

Wir können der Opfer gedenken und dazu beitragen, neue Opfer zu verhindern.

Wir können ungerechte wirtschaftliche Strukturen verwandeln, denn Wirtschaftssysteme und Strukturen existieren nicht durch sich selbst, sie brauchen Menschen, die sie aktiv betreiben.

Eine Welt ohne Armut, Krieg und Gewalt ist nicht nur möglich, sie ist notwendig, um Not zu wenden und Opfer zu verhindern.

Wenn wir das versuchen, dann halten wir den Glauben daran wach, dass nicht die gewalttätigen Sieger der Geschichte, sondern ihre Opfer Zukunft haben sollten!

Wir werden gleich an diesem Mahnmal Blumen niederlegen.

Nicht um mit Blumen das Leiden der Opfer zu verdecken, nicht um zu verharmlosen, zu verschweigen oder zu verdrängen, sondern, um zu zeigen, dass das Leben siegt, um der Opfer zu gedenken und unsere Widerstandskräfte zu stärken gegen Unrecht und Leid.

Ich schließe mit einem leicht veränderten Text von Scholem Ben Chorin, den er 1942 schrieb:

„Freunde, dass die Blume wieder blüht,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt.

Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit,

achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.

Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.

Doch des Lebens Blütensieg, leicht im Winde weht.

Freunde, dass die Blume sich in Blüten wiegt,

bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“

Persönliche Eindrücke vom Antikriegstag

Zum diesjährigen Antikriegstag am 1. September 2011 in Gelsenkirchen gab es – meines Wissens – eine Premiere. Ein gemeinsamer Aufruf eines Personenbündnisses von Mitgliedern verschiedener Parteien und Organisationen aus Die Linke, MLPD und AUF, DKP, VVN und anderen warb für eine gemeinsame Kundgebung, Demonstration und Gedenkveranstaltung.

Ab 17.15 Uhr gab es auf dem Preuteplatz Infostände sowie eine Kundgebung mit Rede- und Kulturbeiträgen. Moderiert wurde sie von Martina Reichmann und Hartmut Hering, die das hervorragend geleistet haben. Teilgenommen haben etwa 100 bis 200 Personen, eine gewisse Fluktuation war natürlich auf der Bahnhofstraße am „langen“ Donnerstag vorhanden.

Dies ist kein Bericht der Kundgebung, der hoffentlich an anderen Stellen geleistet wird. In der Zusammenschau der Berichte auf der Homepage der Die Linke, der MLPD und AUF, der DKP und der VVN wird sich sicherlich ein differenziertes Gesamtbild der Veranstaltung ergeben.

Gegen 18.30 Uhr setzte sich der Demonstrationszug durch die Innenstadt in Richtung Stadtgarten zum VVN-Mahnmal für die Opfer der Nazi-Diktatur in Bewegung, wo Pfarrer im Ruhestand Rolf Heinrich im Rahmen der Gedenkfeier eine beeindruckende Rede hielt.

Bemerkenswert fand ich die „Aktionseinheit“ mit Genossinnen und Genossen der MLPD. In Gesprächen mit verschiedenen Teilnehmern wurde deutlich, dass die Angst, dies könne eine reine MLPD-Veranstaltung sein, vorhanden war. Hier bestehen – auch bei mir – erhebliche Berührungsängste sowie die Befürchtung, vereinnahmt zu werden. Die Beiträge waren aber insgesamt unterschiedlich genug und ausgewogen, trotz der Bauchschmerzen bei dem Thema „ungerechte Kriege“. Meiner Meinung nach gibt es keinen gerechten Krieg!

Mir persönlich hat der Redebeitrag der Linke-Sprecherin Ayten Kaplan am besten gefallen, er war obwohl sprachlich nicht perfekt (oder vielleicht gerade deswegen), der emotionalste und bewegendste. Sie stellte die Frage, ob Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg sei. Es tat richtig gut, ihr zuzuhören. Ich hoffe, Die Linke druckt die Rede auf ihrer Homepage zum nachlesen ab. Es freut mich sehr, dass es solche guten Wortbeiträge wieder aus der örtlichen Linkspartei gibt.

Unerwartet getroffen hat mich ein kleiner Wortwechsel am Ende der Veranstaltung, im Stadtgarten. Im kurzen Gespräch mit einer Genossin erwähnte ich, dass ich einen lokalen Blog, den roten Emscherboten betreibe, und erhielt darauf hin die Erwiderung: „Du bist das! Du hetzt immer gegen die Montagsdemonstration.“ Nun, ich erwiderte, dass ich nicht hetze, sondern sie kritisiere.

Es sind ja oftmals kleine Ereignisse, die einen zum nachdenken bringen, und dieser zeigt, dass die verschiedenen Linken in dieser Stadt – und dazu zähle ich auch die MLPD, auch wenn ich ihre Positionen nicht teile – sich teilweise kaum kennen und offenbar unterschiedliche Vorstellungen von Kritik haben. Vielleicht ist mein Kritikverständnis manchen zu bürgerlich, vielleicht bin ich aber auch zu hart mit GenossInnen, die seit 7 Jahren jeden Montag demonstrieren?

In diesem Sinne war es sicherlich gut, mit diesem breiten Personenbündnis zu demonstrieren. Vielleicht ergibt sich in Zukunft häufiger die Möglichkeit zu wirklich gemeinsamen Veranstaltungen, die nicht von einer Partei und ihrem Wahlbündnis dominiert werden? Wenn man sich besser kennenlernt, glättet das zwar nicht die Unterschiede in den Positionen, aber es weckt vielleicht den gegenseitigen Respekt für die Leistungen der anderen. Was auch nicht schlecht wäre und ein guter Lernerfolg dieses Antikriegstages sein könnte …

Fotos: Lina & Knut