Rede von Pfarrer im Ruhestand, Dr. Rolf Heinrich
1. September 2011
Wir stehen hier am Mahnmal für die Opfer von Krieg und Faschismus.
Wir stehen hier gegen das Vergessen, denn die Erinnerung ist die Kraft der Versöhnung, der Gerechtigkeit und des Friedens.
Starke Arme hat die Erinnerung.
Wer sich an Unrecht und Gewalt erinnert, wer nicht vergisst, der spürt, dass die Opfer schmerzhaft gegenwärtig sind.
Wer sich erinnert, der kann aus dem, was geschehen ist, lernen.
Erinnerung aber ist kein Heilmittel an sich, sie kann belasten und entlasten, sie kann verharmlosen und verschweigen, sie kann versklaven und befreien.
Erinnerung kann heilen, sie kann zur Kraft der Versöhnung werden, ohne Unrecht zu vergessen und ohne neues Leiden zu produzieren.
„Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual“, sagt Erich Fried.
„Zerstampft des Unrechts Drachensaat. Zerstört den Hass von Staat zu Staat. Versenkt die Waffen in Gewässern.“ heißt es im Gedicht in der Mitte des Denkmals.
Wer sich an die Opfer von Unrecht und Krieg erinnert, der wird ermutigt, aufzustehen und zu kämpfen für Frieden, Abrüstung und Demokratie.
Wir gedenken der Opfer, sie sind gegenwärtig.
Das Wort „Opfer“ verallgemeinert, was nicht zu verallgemeinern ist.
Denn hinter dem Wort „Opfer“ stehen einmalige Menschen, deren Würde missachtet wurde, weil ihnen das Recht auf den eigenen Tod genommen wurde.
Hinter dem Wort „Opfer“ tauchen Namen, Gesichter, Lebensgeschichten, Träume und Sehnsüchte von Menschen auf. Jeden dieser Menschen gab es nur ein einziges Mal auf dieser Erde. Jeder Mensch, jedes Leben ist ein Heiligtum, der Tempel Gottes.
Wie wertvoll, wie schützenswert ist dieses einmalige Leben!
Die Opfer sind gegenwärtig.
In der Stille denken wir an sie.
Die Opfer mahnen uns: Kein Mensch sollte auf den Wegen seines Lebens geopfert werden oder zum Opfer verführt werden: nicht für das Vaterland, nicht für die Arbeit, nicht für den technischen Fortschritt, nicht für die Religion oder wie die Götter und Götzen einer Zeit nur heißen mögen.
Und doch auch hier gilt, dass das Leben vielfältiger und komplizierter ist, als ich es haben möchte: Es gibt Menschen, die aus Liebe und Solidarität eigene Lebensziele aus freier Entscheidung aufgeben.
Es gibt Menschen, die aus Nähe und Liebe zu anderen Menschen ihr Leben opfern, wie der Kinderarzt Janusz Korczak, der 1942 mit seinen jüdischen Waisenkindern freiwillig in das Konzentrationslager Treblimka, in die Gaskammer und in den Tod ging.
Und doch gilt zugleich: Kein Mensch sollte auf den Wegen seines Lebens geopfert werden.
Menschen aber werden nachwievor tagtäglich zu Opfern: Sie werden geopfert aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Machtinteressen.
Weltweit werden Menschen zum Töten und Getötet werden auf die Jagd geschickt um des Geldes und der Vermehrung des Geldes willen.
Das deutsche Wort Geld bedeutet von seiner Herkunft her Opfer.
Die Wurzel allen Übels, aller Kriege und Gewalttaten ist die Habgier und Profitgier heißt es in der Bibel, weil sie die Beziehungen der Menschen untereinander zerstört, indem andere ausgenutzt und ausgebeutet werden, anstatt solidarisch zu teilen.
Der persönlichen Habgier entspricht die Struktur einer Gesellschaft, die in der die Steigerung der Profitrate ihr einziges Ziel und ihren Sinn sieht.
Frieden und soziale Gerechtigkeit aber gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.
Wir stehen hier an einem Mahnmal.
Wir selbst, jede und jeder von uns ist ein lebendiges Mahnmal.
Es liegt auch an uns, was aus dieser Welt wird.
Wir sind nicht hilflos dem ausgeliefert, was in unserer Gesellschaft geschieht.
Wir können der Opfer gedenken und dazu beitragen, neue Opfer zu verhindern.
Wir können ungerechte wirtschaftliche Strukturen verwandeln, denn Wirtschaftssysteme und Strukturen existieren nicht durch sich selbst, sie brauchen Menschen, die sie aktiv betreiben.
Eine Welt ohne Armut, Krieg und Gewalt ist nicht nur möglich, sie ist notwendig, um Not zu wenden und Opfer zu verhindern.
Wenn wir das versuchen, dann halten wir den Glauben daran wach, dass nicht die gewalttätigen Sieger der Geschichte, sondern ihre Opfer Zukunft haben sollten!
Wir werden gleich an diesem Mahnmal Blumen niederlegen.
Nicht um mit Blumen das Leiden der Opfer zu verdecken, nicht um zu verharmlosen, zu verschweigen oder zu verdrängen, sondern, um zu zeigen, dass das Leben siegt, um der Opfer zu gedenken und unsere Widerstandskräfte zu stärken gegen Unrecht und Leid.
Ich schließe mit einem leicht veränderten Text von Scholem Ben Chorin, den er 1942 schrieb:
„Freunde, dass die Blume wieder blüht,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt.
Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg, leicht im Winde weht.
Freunde, dass die Blume sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“