Archiv für den Monat Januar 2018

Erinnerung an die industrielle Menschenvernichtung in Auschwitz

Erinnerungsort Auschwitz (Foto: Wolfgang Freye, im Oktober 2017)

Der 27. Januar ist in Gelsenkirchen ein zweifacher Gedenktag. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die letzten Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Drei Jahre zuvor, am 27. Januar 1942, fand die erste Deportation jüdischer Männer, Frauen und Kinder aus Gelsenkirchen und Recklinghausen in das Ghetto Riga statt.

Der Lagerkomplex Auschwitz bestand aus drei Lagern, dem Stammlager Auschwitz I, dem Vernichtungslager Auschwitz II, Auschwitz-Birkenau, und dem Industriekomplex Auschwitz III, Auschwitz-Monowitz. Es handelte sich um den größten Lagerkomplex und bei Auschwitz-Birkenau um das größte Vernichtungslager der Nazis. Von den über 5,6 Millionen ermordeten jüdischen Menschen wurden rund 1 Million Menschen in Auschwitz-Birkenau umgebracht. Die meisten von ihnen wurden direkt nach der Ankunft in Zügen „an der Rampe von Auschwitz“ für den Erstickungstod in den Gaskammern ausgewählt, weitere wurden von der SS durch Krankheit, Unterernährung, willkürliche Misshandlung, in sinnlosen medizinischen Experimenten oder wenig später nach restloser Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch Gas ermordet.

Die durchschnittliche Lebensdauer der Häftlinge in Auschwitz betrug drei Monate. Der Name „Auschwitz“ wurde so zum Symbol für die industrielle Menschenvernichtung der Nazis. Die Aufschrift „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor des KZ markiert dabei die zynische Menschenverachtung der SS.

Erinnerungsort Auschwitz (Foto: Wolfgang Freye, im Oktober 2017)

Als Einheiten der Roten Armee am 27. Januar 1945 das Lager befreien, fanden sie nur mehr 7500 gerade noch lebende Häftlinge vor, die zu schwach für eine Evakuierung gewesen waren. Wer das Morden zuvor überlebt hatte, war in andere Lager „evakuiert“ worden. Durch die Sprengung der Gaskammern hatten die Nazis versucht, die Spuren ihrer Taten zu verwischen. Doch vergeblich, Teile des Lagerkomplexes sind heute als staatliches polnisches Museum und Gedenkstätte öffentlich zugänglich.

In vielen Ländern der Erde wird am 27. Januar an den Massenmord der Nazis erinnert. Dieser Tag wird bereits seit 1959 in Israel als Gedenktag begangen, in Deutschland ist er seit 1996 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, die Vereinten Nationen erklärten ihn 2005 zum „Internationalen Holocaust-Gedenktag“. Der Gedenktag erinnert am Jahrestag der Befreiung des KZ an alle durch die Nazis verfolgten und ermordeten Menschen.

Erinnerungsort Auschwitz (Foto: Wolfgang Freye, im Oktober 2017)

Doppeltes Gedenken in Gelsenkirchen

Der 27. Januar erinnert zugleich an die erste und größte Deportation jüdischer Bürger aus Gelsenkirchen am 27. Januar 1942. 355 Gelsenkirchener und weitere Bürger aus Recklinghausen mussten von der damaligen Ausstellungshalle an der Wildenbruchstraße, wo sie zuvor eingesperrt worden waren, zum Güterbahnhof laufen und wurden mit der Reichsbahn zunächst in das Ghetto Riga gebracht, das der Zug am 1. Februar 1942 erreichte. Um Platz für die Deportierten aus Deutschland zu schaffen, waren zuvor die in das Ghetto  eingesperrten lettischen Juden von der lettischen SS unter Aufsicht der deutschen SS in den umliegenden Wäldern von Rumbula erschossen worden. Das Ghetto Riga wurde bis November 1943 schrittweise geräumt. Wer nicht ermordet wurde kam in das KZ Riga-Kaiserwald oder in ein anderes Lager. Nur die wenigsten überlebten die unmenschlichen Zustände in den von den Nazis errichteten Ghettos und KZs.

In den Jahren 2010 bis 2013 hatte Gelsenzentrum e.V. aus diesem Anlass unterschiedliche Gedenkveranstaltungen durchgeführt. In diesem Jahr führt die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, am Sonntag, dem 28. Januar 2018 ab 16.15 Uhr eine Mahnwache vor dem Grillo-Gymnasium durch und reinigt in dieser Zeit die dort für ehemalige Schüler verlegten Stolpersteine. Im Anschluss daran werden sie die Veranstaltung des Instituts für Stadtgeschichte in der neuen Synagoge besuchen.

Die Verwaltung der Erinnerung in Gelsenkirchen

Neben die Frage, wie sich an die Verbrechen der Nazis angemessen erinnern lässt, tritt bisweilen auch die Frage, an welchem Ort wir angemessen erinnern können. In Gelsenkirchen stellte sich darüber hinaus das peinliche Problem, die Frage nach dem richtigen Ort überhaupt thematisieren zu dürfen. So musste ein Bürger die Behandlung seiner Anregung im Kulturausschuss erst mit Hilfe des Verwaltungsgerichts durchsetzen.

Vor einigen Jahren hat der „Zug der Erinnerung“ mit einer mobilen Ausstellung in Eisenbahn-Waggons über die europaweiten Deportationen durch die Deutsche Reichsbahn Aufsehen erregt. Er machte auf vielen Bahnhöfen Deutschlands Station und hielt im Februar 2008 auch in Gelsenkirchen, war zuvor in Bochum und fuhr anschließend nach Duisburg weiter. Der von einer Dampflok gezogene Zug bestand aus mehreren Waggons, in denen die Deportationen im von Nazi-Deutschland besetzten Europa in beispielhaften Einzelbiografien dargestellt wurden.

Die Kosten der deutschlandweiten Fahrten wurden durch private Spenden aus ganz Deutschland aufgebracht, weder die Deutsche Bahn AG als Nachfolgerin der Deutschen Reichsbahn noch die Stadt Gelsenkirchen beteiligten sich finanziell daran. Vielmehr nahm die Bahn AG die üblichen Bahngebühren ein. Immerhin war der „Zug der Erinnerung“ am 17. Februar 2008 in Gelsenkirchen vom Bürgermeister Klaus Hermandung begrüßt worden und hatte Oberbürgermeister Baranowski eine „Schirmherrschaft“ über den Gelsenkirchener Halt übernommen.

Erinnerungsortetafel in einer Ecke am Südausgang des Gelsenkirchener Hauptbahnhofs.

Anstatt den „Zug der Erinnerung“ bzw. seinen Gelsenkirchener Aufenthalt finanziell zu unterstützen, hatte die Stadt Gelsenkirchen zur „nachhaltigen Erinnerung“, wie es in einer Pressemitteilung beschönigend heißt, schnell mal eben am 19. Februar 2008 neben dem Südeingang des Hauptbahnhofs eine Tafel hingestellt, die die Namen der 80 deportierten Gelsenkirchener Kinder und Jugendlichen aufführt. Der korrekte historische Ort wäre der frühere Güterbahnhof gewesen, von dem aus die Deportationen durchgeführt worden waren. Allerdings hätte die Tafel an jenem Ort keine Öffentlichkeit gefunden, daher ist die Wahl des Hauptbahnhofs sicherlich besser.

Damals wie heute stellt sich jedoch die Frage, warum die Tafel nicht direkt im Hauptbahnhof, sondern außerhalb angebracht worden ist.

Die Behandlung dieser Frage gehört selbstverständlich in den städtischen Kulturausschuss. Im August 2016 beantragte der unbequeme Sozialdemokrat Klaus Brandt in einer Bürgeranregung, die Stadtverwaltung solle mit der Deutschen Bahn AG darüber verhandeln, die Erinnerungsortetafel „Deportation jüdischer Kinder und Jugendliche“ oder ein vergleichbares Gedenkzeichen innerhalb des Bahnhofs anzubringen.

Blick in den Gelsenkirchener Hauptbahnhof.

Wie er in einer ausführlichen Rundmail vom 17. November 2017 darlegt, wurde seine Anregung grob missachtet. Zuallererst stellte die Verwaltung stumpf fest, dass der Gelsenkirchener Bahnhof nicht zum Zuständigkeitsbereich der Stadt gehöre und leitete Brandts Anregung an die Deutsche Bahn AG weiter. Brandt wehrte sich mit inhaltlichen Argumenten, es sei ihm nicht um einen Verwaltungsvorgang gegangen, sondern um ein politisches Handeln der Stadt Gelsenkirchen mit ihrem ganzen politischen Gewicht.

Es folgte ein Schriftverkehr zwischen Klaus Brandt und verschiedenen Stellen der Deutschen Bahn AG, die auf ihr zentrales Mahnmal in Berlin, aber auch auf die Kooperationen mit vielen Städten und Gemeinden in Bezug auf die Anbringung von Gedenktafeln verwies. Im Oktober 2016 wandte sich Brandt mit diesem Ergebnis wieder an die Stadt und erneuerte seine Anregung, nicht er als einzelner Bürger, sondern die Stadt solle mit der Bahn verhandeln.

Am 16. Februar 2017 wurde Klaus Brandt durch den Oberbürgermeister abgewatscht. Seine Eingabe würde sich nicht auf eine gemeindliche Angelegenheit beziehen, denn es gäbe keine rechtliche Einflussmöglichkeit der Stadt. Einen Dritten um ein bestimmtes Handeln zu bitten, sei keine gemeindliche Angelegenheit im Sinne des § 24 der Gemeindeordnung NRW.

Klaus Brandt, selbst Jurist, reichte am 23. Februar 2017 eine Klage gegen die Stadt Gelsenkirchen vor dem Verwaltungsgericht ein und beantragte, die Stadt zu verpflichten, seine Bürgeranregung zu behandeln. Die Stadt blieb bei ihrer Haltung, während Brandt Beispiele aufführte, in der die Stadt sehr wohl Dritte zum Handeln aufforderte. So hatte zum Beispiel der Rat der Stadt am 30. März 2017 eine „Resolution zur sofortigen Freilassung des Journalisten Deniz Yücel aus der Untersuchungshaft in der Türkei“ beschlossen. Klaus Brandt findet, dass die Stadt den Gelsenkirchener Opfern der Bahntransporte in die Ghettos und Vernichtungslager nicht weniger Einsatz schulde als den Opfern der Repression in der Türkei.

Während Klaus Brandt inhaltlich argumentiert, pochte die Verwaltung einsilbig und unbelehrbar auf ihren juristischen Standpunkt. So antwortete die Stadt dem Verwaltungsgericht, es sei dem Oberbürgermeister oder dem Rat unbenommen, Appelle an Dritte zu richten, aber das heiße noch lange nicht, dass ein Normalbürger das rechtswirksam anregen könne. Trotz dieser überaus bornierten und von Untertanengeist geprägten vordemokratischen Einstellung – und das in einer sozialdemokratischen Stadt – blieb Klaus Brandt beharrlich bei inhaltlichen und politischen Argumenten.

Erst nachdem das Verwaltungsgericht die Stadt darauf hinwies, dass Klaus Brandt einen Anspruch darauf habe, dass seine Eingabe vorgelegt werde, wurde dessen Anregung dem Ausschuss für Kultur am 22. November 2017 endlich vorgelegt. Im Ratsinformationssystem ist zu erfahren, dass der Ausschuss der Vorlage der Verwaltung mehrheitlich zugestimmt hat – und damit die Anregung von Klaus Brandt abgelehnt hat. In der Verwaltungsvorlage heißt es im letzten Absatz: „Es bleibt für die Entscheidung festzuhalten, dass eine Beschilderung des Bahnhofsgebäudes der Deutschen Bahn AG nicht in die Zuständigkeit und die Entscheidungskompetenz der Stadt Gelsenkirchen fällt. Gleichzeitig ist auch durch die von Demokratischer Initiative und Stadt Gelsenkirchen aufgestellte Erinnerungsorte-Tafel zu Deportationen jüdischer Kinder und Jugendlicher unmittelbar vor dem Südausgang des Bahnhofs gesichert, dass an die Verbrechen an jüdischen Menschen und die Beteiligung der Reichsbahn in öffentlichkeitswirksamer Weise erinnert wird.“

Wie „öffentlichkeitswirksam“ dort erinnert wird, kann man auf dem Foto unten unschwer erkennen. Ein Protokoll der Kulturausschusssitzung, in dem vielleicht mehr über die Diskussion im Ausschuss zu erfahren wäre, liegt im Ratsinformationssystem derzeit nicht vor.

Südausgang des Gelsenkirchener Hauptbahnhofs. Die Erinnerungsortetafel befindet sich „öffentlichkeitswirksam“ links in der Ecke.