Archiv für den Monat Juli 2021

Gelesen: „Er, Sie und Es“ von Marge Piercy

Mit dem Roman „He, She and It“ (Er, Sie und Es, 1993) hat die US-amerikanische Autorin Marge Piercy 1991 ein beeindruckend erzähltes Meisterwerk vorgelegt. Vor dem Hintergrund einer weitgehend zerstörten Erde der Zukunft und eingebunden in eine spannende Handlung verbindet sie Fragen um die Schaffung künstlichen Lebens mit unserer Wahrnehmung von Geschlechterrollen. Piercys Erde der Zukunft ist das Ergebnis von Kapitalismus, Klimawandel, Umweltzerstörung, Seuchen und Hungersnöte und uns angesichts einer weltweiten Pandemie und Klimakatastrophen, die inzwischen auch unser Land erreichen, heutzutage noch näher als es 1991 der Fall gewesen sein mag. Die im Roman dargestellte freie Stadt Tikva kann als dynamische Utopie für eine andere Zukunft als die geschilderte gesehen werden.

In dieser Zukunft gibt es einige hochtechnisierte Enklaven sogenannter „Multis“, in den unterschiedlich strikte Reglements aller Lebensbereiche gelten, slumartige von Gangs beherrschte Megastädte wie den „Glop“, aus denen die „Multis“ Tagelöhner beschäftigen, und freie Städte wie „Tikva“, in der ein Großteil der Handlung stattfindet. Weite Teile der ehemaligen Anbaugebiete für die Ernährung der Weltbevölkerung sind überschwemmt oder zu Wüste geworden, die wenige landwirtschaftliche Nutzfläche ist daher von der Besiedelung ausgeschlossen. Auf oder in der Erde gewachsene Nahrung ist ein Luxusprodukt, die Masse der durch Hungersnöte und Unfruchtbarkeit ohnehin reduzierten Bevölkerung lebt von „Bottichnahrung“ aus Algen, in unterschiedlicher Gestalt aber immer in derselben Konsistenz.

In der freien Natur ist kein Überleben möglich, die Kuppeldome der Städte kann man nur mit einer Schutzhülle oder in gesicherten Fahrzeugen ungefährdet verlassen. Verbindungen bestehen durch Untergrundbahnen. Organplünderer, die Jagd auf Menschen machen um deren Organe verkaufen zu können, sind eine weitere Gefahr. Die Masse der Menschen in den Slums wird mit elektronischer Unterhaltung und Drogen abgespeist. Bildung gibt es nur für die Oberschicht. Verbunden sind die Städte über das „Netz“, das der Kommunikation und Information dient. In der freien Stadt Tikva lernen im Gegensatz zu den Multi-Enklaven alle Bürger den Umgang mit dem Netz, das auch zum Arbeiten und Lernen genutzt wird. Da sich Personen in das Netz projizieren, können sie dort auch angegriffen, verletzt und getötet werden.

Erzählt wird die Geschichte wechselseitig aus der Sicht von Shira und ihrer Großmutter Malkah. Shira, in Tikva aufgewachsen, hatte ein Angebot des Multis Yakamura-Stichen (Y-S) angenommen, dort geheiratet und den Sohn Ari bekommen. Im Zuge ihrer Trennung von ihrem Mann verliert sie mit der Scheidung das Sorgerecht für ihren Sohn, der sich zudem versetzen lässt. Sie verlässt die Konzern-Enklave und kehrt nach Hause zurück. In Tikva forscht Avram seit Jahrzehnten im Geheimen an der Schaffung eines illegalen Cyborgs, einem menschlich aussehenden künstlichen Wesen, das sich anders als ein Mensch unbegrenzt im Netz aufhalten und die Basis der Stadt gegen Angriffe aus dem Netz verteidigen kann. Nach mehreren Fehlschlägen gelingt ihm mit Hilfe von Shiras Großmutter Malkah die Schaffung von Yod. Nach der Rückkehr von Shira übernimmt sie die weitere, menschliche Sozialisation von Yod und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihm. Yod zeigt sich in seinem Verhalten sehr menschlich und ist bestrebt, diesen Teil seiner Persönlichkeit in der Interaktion mit Menschen zu erweitern, folgt aber andererseits seiner primären Aufgabe, Tikva zu beschützen, als er Malkah gegen einen Angriff aus dem Netz verteidigt und die Angreifer dort verfolgt und ausschaltet. Sie finden heraus, das Y-S hinter dem Angriff steckt.

Nach Tikva ist auch Shiras Jugendliebe Gadi, Avrams Sohn zurückgekehrt, der sie in der Vergangenheit tief verletzt hatte. Erst Yod ist in der Lage, mit seiner Zuneigung die Verletzung zu heilen. Nachdem Y-S Shira ein Treffen angeboten hat, tauchen auch Shiras Mutter Riva sowie ihre Partnerin Nili auf. Shira kannte ihre Mutter nicht, die als Informationspiratin im Untergrund lebt. Shira erfährt von ihr, dass ihr Vater kein Beziehungspartner, sondern eine Samenspende eines bereits verstorbenen Wissenschaftlers war. Nili ist ein technisch aufgerüsteter Mensch und Yod in vielem ähnlich. Sie stammt aus dem Gebiet, das als „Schwarze Zone“ bekannt ist, dem seit dem „Vierzehntagekrieg“ und einem terroristische Atombombenanschlag verseuchten Nahen Osten. Nili gehört einer Gemeinschaft an, in der israelische und palästinensische Frauen zusammenleben und sich durch Klontechnik fortpflanzen.

Während wir bei Yod von einem Androiden sprechen können, einem vollständig künstlich erschaffenen Wesen, handelt es sich bei Nili um einen Cyborg, einem weiblichen Menschen, der technisch aufgerüstet wurde. Interessant an Yod wie Nili sind auch die uneindeutigen Geschlechterrollen beider, die die Grenzen zwischen Mann und Frau verschwimmen lassen. So zeigt Yod, männlich und zur Verteidigung geschaffen, aufgrund der Programmierung bzw. Beziehung zu zwei Frauen auch Eigenschaften wie Sensibilität und Geduld, die beide als weibliche Eigenschaften gelten. Nili wirkt im Gegensatz dazu und aufgrund ihrer Lebensumstände sehr männlich; sie ist eine Einzelgängerin, wortkarg, zielgerichtet und zeigt wenig Emotionen.

Y-S versucht Shira bei dem vereinbarten Treffen zu überwältigen, wird jedoch von Yod, Riva und Nili erfolgreich beschützt. Inzwischen wird deutlich, dass es Y-S auf die Forschungsergebnisse von Avram abgesehen hat, und auf deren Ergebnis: Yod. Gadi, der erfolgreich in der Produktion elektronischer Unterhaltung und dafür sehr berühmt ist, unternimmt mit Nili, die mit ihm eine Affäre begonnen hat, sowie Shira und Yod eine Reise in den „Glop“. Nili sucht hier nach Bündnispartnern. Im „Glop“ zeigt sich die scheinbar festgefügte Welt der Multis in unerwarteter Bewegung. Während eines kurzen Abstechers holen Shira und Yod Shiras Sohn Ari aus einer Y-S-Enklave heraus und bringen ihn mit zurück nach Tikva. Yod hofft, zur Schaffung einer Familie beigetragen zu haben, der er angehört. Dann überschlagen sich die Ereignisse, als bekannt wird, dass Yod kein Mensch ist und Y-S der freien Stadt Tikva ein Ultimatum stellt. – Wie die Geschichte ausgeht, wird hier natürlich nicht verraten.

In den Roman eingeflochten ist die Geschichte des Golems, den Rabbi Löw im Prag des 16. Jahrhunderts zum Schutz des Ghettos mit Hilfe kabbalistischer Magie aus Lehm schuf. Die Geschichte erzählt Malkah Yod Kapitelweise mit dem Fortgang der Haupthandlung und spiegelt damit seine Existenz in der Gegenwart des Romans. Da es sich bei Tikva um eine jüdische Siedlung handelt, lässt sich auch von Yod als Golem sprechen. Der Roman gewann 1993 den Arthur C. Clarke Award, einen Science-Fiction-Literaturpreis.

Die Autorin dieses Werkes, Marge Piercy, wurde am 31. März 1936 in Detroit/Michigan während der Großen Depression geboren. Sie wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Ihr Großvater mütterlicherseits war ein Gewerkschafter, der aufgrund dessen ermordet worden war. Ihre Großmutter mütterlicherseits war die Tochter eines Rabbis. Sowohl ihre Großmutter wie ihre Mutter waren große Geschichtenerzählerinnen. Bereits in jungen Jahren lernte sie die Trennung zwischen Schwarzen und Juden auf der einen Seite und Weißen auf der anderen Seite kennen. Die Welt der Bücher entdeckte sie für sich, als sie aufgrund von Krankheiten nichts weiter tun konnte außer Lesen. Nach ihrem Abschluss der High School konnte sie als erste in ihrer Familie aufgrund eines Stipendiums an der University of Michigan studieren. Sie machte 1957 ihren BA und ein Jahr später an der Northwestern University ihren MA.

Piercy ist zum dritten Mal verheiratet. Ihre in jungen Jahren geschlossene erste Ehe mit einem französischen jüdischen Physiker ging aufgrund unterschiedlicher Geschlechterrollen-Erwartungen 1959 in die Brüche. Auch ihre zweite, 1962 geschlossene Ehe, scheiterte. In dritter Ehe ist sie mit Ira Wood verheiratet, mit dem sie seit den 1970ern in Wellfleet/Michigan lebt. Nach dem Scheitern der ersten Ehe kehrte sie aus Frankreich zurück, lebte in Chicago, wo sie sich mit verschiedenen Teilzeitjobs über Wasser hielt und in der Bürgerrechtsbewegung engagierte. Diese Zeit betrachtet sie als die härteste ihres Lebens, sie war arm, ihre Ehe ein Fehlschlag und als Schriftstellerin unsichtbar. Gleichwohl entwickelte sie klare Vorstellungen, worüber sie schreiben wollte. Ihre zweite Ehe 1962 war eine offene Beziehung und führte sie quer durch die USA. Neben der Arbeit schrieb sie und engagierte sich politisch unter anderem gegen den Vietnam-Krieg und in der Frauenbewegung. 1968 brachte ihr erste literarische Erfolge, als sowohl ihr erster Gedichtband „Breaking Camp“ veröffentlicht wie auch ihr erster Roman angenommen wurde.

1971 zogen sie nach Cape Cod. Piercy kannte bis dahin nur das Leben in der Großstadt, konnte sich dort jedoch nach den Jahren, die sie zuletzt in New York verbracht hatten, erholen, neue Kraft gewinnen und Wurzeln schlagen, während sich die Ehepartner zunehmend voneinander entfremdeten. Ihren dritten Ehemann, Ira Wood, kannte sie bereits sechs Jahre, bevor sie 1982 heirateten. In dieser Ehe fühlt sie die Unterstützung, die sie benötigt. Piercy gilt heute als einflussreichste feministische Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Sie hat zahlreiche Gedichtbände, Romane, ein Theaterstück, eine Essaysammlung, ein Sachbuch und ihre Autobiografie veröffentlicht, darunter mehrere Bestseller und inzwischen als feministische Klassiker bezeichnete Werke. Der Hintergrund ihrer Werke wechselt, sie spielen in der Zukunft, der Vergangenheit oder der Gegenwart. Ein weiterer bemerkenswerter und auf Deutsch vorliegender Roman „Woman on the Edge of Time“ (Die Frau am Abgrund der Zeit, 1986) aus dem Jahr 1976 stellt im Rahmen einer Zeitreise-Story gleichzeitig eine radikale Kritik an der Psychiatrie der USA wie eine klassische Utopie einer auf genossenschaftlichen Gemeineigentum und geschlechter-egalitären Gesellschaft dar. Marge Piercy engagiert sich für Bürgerrechte, Feminismus und in der Antikriegs-, Klima- und Umweltschutzbewegung.

Esther Bejarano gestorben

Ihr letzter öffentlicher Auftritt am 3. Mai diesen Jahres.

Heute Nacht ist die Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück und eines Todesmarsches im Alter von 96 Jahren ruhig und friedlich eingeschlafen. Die VVN-BdA verdankt ihrer Ehrenpräsidentin viel. Als 1990 zum ersten Mal ein Bundessprecher:innenkreis gewählt werden sollte und dafür Personen gesucht wurden, die Tradition und Neuanfang verkörperten, stand sie dafür zur Verfügung und wurde eine der ersten Bundessprecherinnen in einer Zeit, in der die VVN-BdA der Diffamierung des Antifaschismus entgegentreten musste. Sie hat einen großen Anteil daran, dass das gelungen ist. Und als im November 2019 das Finanzamt in Berlin die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA bestritt, schritt sie mit ihrem flammenden Appell an Olaf Scholz „Das Haus brennt und Sie sperren die Feuerwehr aus“ ein und verbreiterte die öffentliche Debatte. Damit hat sie wesentlich zu dem Erfolg in dieser Auseinandersetzung beigetragen. Antifaschismus ist wieder gemeinnützig!

Nun ist die unermüdliche Zeitzeugin gegen Vergessen des historischen und Verharmlosen des aktuellen Faschismus, Mahnerin und Kämpferin für Menschenrechte, Frieden und eine solidarische Gesellschaft von uns gegangen. Die Bundesvereinigung der VVN-BdA schreibt unter anderem in ihrem Nachruf: „Wir alle kannten Sie als eine Frau von großer Entschiedenheit und geradezu unglaublichem Elan, die viele von uns noch bis vor kurzem auf der großen Bühne erleben durften. Zuletzt saß sie am 8. Mai auf unserer kleinen Bühne im Hamburger Gängeviertel und erzählte von ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 durch Soldaten der Roten Armee und der US-Armee, die kurz nacheinander in der kleinen Stadt Lübsz eintrafen. Dort hatte Esther mit einigen Freundinnen aus dem KZ Ravensbrück Unterschlupf gefunden, nachdem sie gemeinsam dem Todesmarsch entflohen waren.“

Anlässlich ihres letzten öffentlichen Auftritts am 3. Mai diesen Jahres, wo sie im Rollstuhl sitzend gleichwohl mit klarer Stimme sprach, wiederholte sie noch einmal ihre Forderung, den 8. Mai in Deutschland zum Feiertag zu machen: „Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.“ Der vollständige Text der Rede kann hier nachgelesen werden.

Ein letztes Interview aus diesem Jahr von der digitalen Befreiungsfeier des KZ Ravensbrück.

Dieser Textbeitrag beruht im wesentlichen auf dem Nachruf der Bundesvereinigung der VVN-BdA.

Namensänderung in „Berufskolleg Am Goldberg“ jetzt vollständig!

Berufskolleg Am Goldberg in Gelsenkirchen-Buer.

Es ist für mich immer wieder eine kleine Überraschung, wer – unbekannterweise – meinen Blog liest. Als ich im Mai aus einem anderen Anlass das Berufskolleg Am Goldberg besuchte und Fotos mit der Absicht machte, einen freundlichen Artikel über die erfolgte Umbenennung zu schreiben, fiel mir leider auf, dass die Namensänderung doch nicht ganz vollständig gewesen ist.

Dumm gelaufen! Doch irgendjemand hat meinen Beitrag gelesen und offenbar einen Verantwortlichen informiert. Als ich kürzlich – wiederum aus einem anderen Anlass – am Berufskolleg vorbeifuhr, fiel mir sofort die letzte Änderung auf. Nun ist auch an den Gebäude-Schildern das Logo und die Kurzbezeichnung die links oben an den vorherigen Namen erinnerte überklebt.