Sollten Schulen nicht nach Vorbildern genannt werden? (II)

Eingang zum Eduard-Spranger-Berufskolleg in Gelsenkirchen-Buer auf der Goldbergstraße.

Endlich gibt es eine Debatte über den Namensgeber des Eduard-Spranger-Berufskollegs in Gelsenkirchen! Allerdings zeigt die Äußerung des Schulleiters, Manfred Abstiens, im städtischen Bildungsausschuss, dass noch viel Aufklärungsbedarf besteht. Der Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer betitelte seine Habilitationsschrift nicht ohne Grund mit „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“. In mehreren anderen Städten Deutschlands befinden sich nach Eduard Spranger benannte Schulen im Prozess der Umbenennung.

Vorweg möchte ich an dieser Stelle eines deutlich machen: Es geht nicht um die pädagogische Arbeit des Berufskollegs und Wirtschaftsgymnasiums in Gelsenkirchen-Buer, sondern um den Namensgeber. Die öffentliche Benennung von Straßen, Plätzen und Institutionen ehrt die Namensgeber und macht sie auch zum Vorbild. Daher lautet m.E. die Frage, ob Eduard Spranger in der Gegenwart ein Vorbild für Schüler sein kann. Warum ich diese Frage verneine, stelle ich in der Folge dar.

Beginnen wir mit der Diskussion im Bildungsausschuss. Auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist dieses Thema in der letzten Sitzung behandelt und der Schulleiter, Manfred Abstiens, eingeladen worden. Anlass war ein Bericht in der lokalen WAZ über Kritik am Namensgeber Eduard Spranger. Für Schulleiter Abstiens, berichtet die WAZ (Online 03.10.2017), sei Eduard Spranger „einer der größten Pädagogen, die die Welt hervorgebracht hat.“ Viel mehr gibt der Bericht zur Position des Schulverantwortlichen leider nicht her. Interessant ist in jedem Fall die Nachfrage des Schulleiters nach dem Interesse von Stadt und Politik. Die WAZ zitiert: „Wenn die Entscheidung aber bei der Schule selbst beziehungsweise der Schulkonferenz liegt, am Ende des Aufarbeitungsprozesses, dann muss die Stadt auch garantieren, dass dieser Beschluss dauerhaft gilt“. Das klingt nach einer Ewigkeitsgarantie, ohne dass sichergestellt ist, wie der innerschulische „Aufarbeitungsprozess“ ablaufen soll. Beobachter sehen die Rolle Abstiens dabei kritisch. In den Gelsenkirchener Geschichten schreibt ein Besucher unter anderem: „An seinen Worten hätten – so mein Eindruck – auch die Herren Alexander Gauland (…) ihre helle Freude haben können.“ Diese Einschätzung lässt tief blicken. Ich bin mir nicht sicher, ob unter diesen Umständen ein ergebnisoffener Prozess in der Schulgemeinde möglich ist.

Über Eduard Spranger habe ich bereits in meinem früheren Beitrag geschrieben. Kurz zusammengefasst: Eduard Spranger (1882-1963) ist ein deutschnationaler Pädagoge, der im Kaiserreich sozialisiert wurde, in der Weimarer Republik, der er ablehnend gegenüberstand, Bedeutung für Forschung und Lehre gewann und nach 1945 seine Karriere unbeirrt fortsetzte, als sei nichts gewesen. Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde von ihm wie von vielen anderen Wissenschaftlern auch bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, verklärt und beschönigt. Als Wissenschaftler zählt Eduard Spranger zur Richtung der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, bei der es sich in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik um die bedeutendste Richtung der Pädagogik in Forschung und Lehre handelte.

Zur weithin unbekannten Seite des bedeutenden Pädagogen gehören seine Veröffentlichungen während der Nazi-Zeit, in denen er die Politik des nationalsozialistischen Staates unterstützte. Benjamin Ortmeyer, pädagogischer Mitarbeiter im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat sich mit der Studie „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“ über Eduard Spranger und drei weiteren Vertretern der Pädagogik 2008 habilitiert. Die 600 Seiten starke Studie macht deutlich, dass Spranger nicht nur NS-Jargon verwendet hat, sondern trotz Einwände im Detail die Politik Nazi-Deutschlands unterstützt hat.

„Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“ von Benjamin Ortmeyer thematisiert nicht nur die NS-Vergangenheit bedeutender Pädagogen, sondern auch deren unwürdige „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945.

Eduard Spranger hatte unbestritten eine wichtige Rolle in der Pädagogik seiner Zeit und war als Wissenschaftler in seiner Zeit wirkmächtig. Doch worauf beruht die Einschätzung von Abstiens, Spranger sei „einer der größten Pädagogen, die die Welt hervorgebracht hat.“ Handelt es sich dabei nicht eher um eine national-bornierte Ansicht, bei der Spranger pathetisch überhöht wird? An dieser Stelle möchte ich niemanden mit der Aufzählung einer Reihe bedeutender Pädagogen langweilen, die vermutlich außerhalb der pädagogischen Zunft wenig bekannt sein dürften, zumal zugleich die Frage mitdiskutiert werden müsste, ob und warum sie das Attribut „groß“ verdienen. Vielmehr haben viele Pädagogen in der Geschichte schrittweise dazu beigetragen, wichtige Fragen wissenschaftlich zu thematisieren und praktisch zu erproben. Doch wenn wir schon über „größte Pädagogen, die die Welt hervorgebracht hat“ diskutieren, können wir Deutschland, Mitteleuropa und den europäischen Kontinent verlassen und einmal einen kurzen Blick auf einen bedeutenden Pädagogen Südamerikas werfen.

Paulo Freire (1921-1997), in Brasilien geboren, gläubiger Katholik, Rechtsanwalt, Professor für Geschichte und Philosophie, UNESCO-Experte für Bildungsfragen in Chile, Sonderberater für Bildungsfragen beim Ökumenischen Rat in Genf. Freire ist bekannt für seine – damals neuartigen – Programme zur Alphabetisierung Erwachsener in den „Favelas“, den Slums und trostlosen Landarbeitersiedlungen Brasiliens. Er gilt als bedeutendster Volkspädagoge der Gegenwart und lehnt die von ihm so bezeichnete „Bankierserziehung“ ab, nach der der Lehrer „Einlagen“ in die Köpfe der Schüler macht. Sein pädagogische Praxis ist vom Prinzip her als Dialog auf gleicher Augenhöhe zwischen Lehrer und Schüler angelegt. Sie zielt mit dem Prinzip der Bewusstmachung (conscientizacao) auf die Selbstbefreiung der Armen in den nachkolonialen Gesellschaften Südamerikas an und in der Lebenssituation des Einzelnen. Lehren bedeutet für ihn Problematisieren, nicht Programmieren mit fremdem Wissen und Beschreiben fremder Wirklichkeit, Lernen ist dann ein Erkenntnisvorgang, der das Leben des einzelnen verändert. Nach einem Militärputsch in Brasilien 1964 musste Freire das Land verlassen und konnte erst 1980 wieder nach Brasilien zurückkehren.

Ich möchte nicht Paulo Freire als Namensgeber für das Berufskolleg und Wirtschaftsgymnasium in Gelsenkirchen-Buer vorschlagen, sondern wollte mit der kurzen Darstellung über ihn deutlich machen, dass es sehr viele andere bedeutende Pädagogen auf der Welt gibt. Zudem haben wir es bei Freire – anders als bei Spranger – mit einem Pädagogen zu tun, der sich der Militärdiktatur nicht unterworfen oder gar mitgemacht hat. Zudem können wir nach allem was wir wissen davon ausgehen, dass Spranger nicht gegen seine Überzeugung in Nazi-Deutschland geblieben ist und mitgemacht hat, sondern seinen Überzeugungen treu geblieben ist und auch in Nazi-Deutschland treu bleiben konnte.

Medienberichten zufolge befinden sich drei nach Eduard Spranger benannte Schulen, in Mannheim, in Frankfurt-Sossenheim und in Landau in der Pfalz, im Prozess der Umbenennung. In Gelsenkirchen gab es 2012 (!) eine Anfrage durch den gemeinnützigen Verein Gelsenzentrum an das Berufskolleg zu dieser Frage, die unbeantwortet blieb. Erst der Artikel in der lokalen WAZ im Juli diesen Jahres und die darauf folgende Sitzung des Bildungsausschusses in der letzten Woche haben die Diskussion in Gang gebracht. Inzwischen befindet sich ein Eintrag, unter der Überschrift „Eduard Spranger – ein guter Name für ein Berufskolleg?“ auch auf der Homepage des Berufskollegs. Schon sprachlich sticht dieser Beitrag durch seine Verschleierung historischer Tatsachen hervor, der nicht in der Lage ist, die Nazi-Zeit beim Namen zu nennen. So heißt es unter anderem dort: „Doch seine kontrovers diskutierte Rolle in der Zeit in der er lebte, bietet Anlass zur Debatte, ob unsere Schule auch weiterhin nach Eduard Spranger benannt sein sollte.“ Das ist kein gutes Signal für den dort ebenfalls angekündigten „ sorgfältige(n) und demokratische(n) Prozess“. Der Beschluss des Bildungsausschusses, den Rat der Stadt in die Entscheidung einzubinden und ein richtungsweisendes Signal zu geben, erscheint daher mehr als sinnvoll.

Zum Abschluss möchte ich noch auf die Frage eingehen, welches denn ein guter Name für das Berufskolleg und Wirtschaftsgymnasium in Gelsenkirchen-Buer sein könnte. Ein Vorschlag liegt der Öffentlichkeit bereits vor. Der umtriebige und seiner Partei vermutlich unbequeme Sozialdemokrat Klaus Brandt hat mit Maria Kraneburg (1880-1936) den Namen der ersten Leiterin des Mädchenlyzeums Buer als Namenspatin vorgeschlagen. Anders als Spranger geriet sie 1933 in Konflikt mit dem Nazi-Gesetz „„zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Es gäbe hier die Möglichkeit, nicht nur ein Opfer der Nazis zu ehren, sondern auch eine Frau, die nach Aussage des ehemaligen Oberbürgermeisters Zimmermann das Mädchenlyzeum Buer „aus kleinsten Anfängen unter Ihrer vortrefflichen Leitung zu einer der blühendsten Schulen Preußens entwickelt hat“. Sicher keine der „größten Pädagogen der Welt“, aber eine, die in unserer Stadt erfolgreich für eine pädagogische Einrichtung gearbeitet hat. Sie ist auf dem alten Friedhof in Buer beigesetzt und wie viele Opfer der Nazis in Vergessenheit geraten. Es gibt noch nicht einmal eine Erinnerungsortetafel, die an sie erinnert.

Supplement
Eine Rezension zu Ortmeyers „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“ findet sich hier.

Ein Gedanke zu „Sollten Schulen nicht nach Vorbildern genannt werden? (II)

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