Vor 70 Jahren: Interview mit Werner Cichowski

Werner Cichowski (v.l.n.r.) 2011 beim Ostermarsch im Stadtgarten Gelsenkirchen, 2009 in Berlin bei der DGB-Demo für ein soziales Europa mit einer "roten Banane" vor dem Reichstagsgebäude , 2014 bei der Antikriegstagskundgebung auf dem Preuteplatz in Gelsenkirchen mit der VVN-BdA-Fahne und 2009 beim Wahlkampf für Die Linke Alternative im Gelsenkirchener Norden unterwegs.

Werner Cichowski in der Gegenwart (v.l.n.r.) 2011 beim Ostermarsch im Stadtgarten Gelsenkirchen, 2009 in Berlin bei der DGB-Demo für ein soziales Europa mit einer „roten Banane“ vor dem Reichstagsgebäude , 2014 bei der Antikriegstagskundgebung auf dem Preuteplatz in Gelsenkirchen mit der VVN-BdA-Fahne und 2009 beim Wahlkampf für Die Linke Alternative im Gelsenkirchener Norden unterwegs.

Werner Cichowski gehört mit seinen über 80 Jahren zusammen mit Robert Konze zu den ältesten noch lebenden Mitgliedern der Gelsenkirchener VVN-BdA. In Kindheit und Jugend erlebte er die Zeit des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges in Gelsenkirchen. Bei Kriegsende befand er sich in der Kinderlandverschickung in Bayern und musste im Alter von 14 Jahren selbst zusehen, wie er von dort aus nach Gelsenkirchen zurückkam. Im folgenden Interview vom 04.07.2015 erinnert sich Werner an die damalige Zeit.

Knut: Wann und wo bist du geboren und aufgewachsen?
Werner: Ich bin am 18.12.1931 in Gelsenkirchen geboren. Meine Mutter hat immer spöttisch gesagt: „im Wäschekorb im Dachzimmer“. Hausgeburten waren damals normal. Mein Vater war Bergmann auf der Zeche Consol. Wir sind öfter umgezogen. Ich war das älteste Kind, nach mir kamen zwei weitere Kinder, ein Bruder und eine Schwester. Meine Schwester hat meinen Vater nicht mehr kennengelernt, da dieser 1937 auf Consol tödlich verunglückte. Meine Mutter blieb Witwe und hat nicht mehr geheiratet, da sie ihren Kindern keinen Stiefvater ins Haus bringen wollte. Sie war über Knappschaftsrente und Berufsgenossenschaftsrente gut abgesichert.

Knut: Was hast du von der Nazi-Zeit in Gelsenkirchen mitbekommen?
Werner: Ich kam 1938 in die Volksschule, die Steinschule in Bismarck, und habe als sechsjähriger Kolonnen von SA und Hitlerjungen grölend durch die Straße ziehen sehen. Später war ich selbst HJ-Mitglied.

Knut: Hat sich 1939 mit Kriegsbeginn etwas verändert?
Werner: Das ist solange her, ich kann mich an den Kriegsbeginn nicht erinnern. Aber es gab Kriegspropaganda in den Schulen. Ich bin im Laufe des Krieges zweimal mit der Kinderlandverschickung nach Bayern gekommen. Die Gebiete waren nach Gaugebieten festgelegt.
Zwischen den beiden Kinderlandverschickungen konnte ich in Gelsenkirchen bereits viele Kolonnen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter sehen, die von den Arbeitsstellen zu ihren Baracken zogen. Diejenigen, die im Bergbau gearbeitet haben, versuchten teilweise Seife gegen Brot zu tauschen. Meine Mutter hatte Brot auf die Fensterbank gelegt – wir wohnten Parterre – und wurde deswegen denunziert, kam aber mit einer Verwarnung davon.
Die erste Verschickung ging 1940 und wir waren bei Privatleuten untergebracht. Ich war in der ländlichen Region in Buchbach, Kreis Mühldorf bei einem strammen Nazi untergebracht, einem Kaufmann, mein Bruder bei einem Steinmetz.
Zur zweiten Kinderlandverschickung ab 1943 wurden wir Schulklassenweise verschickt und gemeinsam in Gasthäusern oder ähnlichen Einrichtungen untergebracht, da dort die Möglichkeit bestand, die Kinder zu versorgen. Es gab dort größere Räume um Schlafsäle einzurichten. Aus dem Tanzsaal wurde dann ein Schlafsaal, aus der Gaststube der Speisesaal und das Klassenzimmer. Die KLV-Lager waren HJ-mäßig organisiert. Neben den Lehrern gab es eine stramme HJ-Führung, die darauf achtete, dass die Kinder im NS-Sinne erzogen und vormilitärisch geschult wurden. Ich wollte damals auch Unteroffizier in der Waffen-SS werden. Es kursierte unter den Kindern in den Lagern entsprechendes Propagandamaterial.
Unser erstes KLV-Lager war in Kist bei Würzburg. Dort mussten wir zum Beispiel im Wald Brombeerblätter und andere Kräuter sammeln, die auf dem Dachboden getrocknet wurden. Wenn ich dort später mit dem Auto – die Trasse der Autobahn war bereits damals im Wald geschlagen – dort entlang gefahren bin, habe ich mich immer daran erinnert und meiner Tochter gesagt, was ihr Vater hier vor 30 Jahren gemacht hat.
Das zweite Lager war in Au bei Bad Aibling in Oberbayern. Das Dorf Au liegt im Voralpengebiet. Dort haben wir gesehen, wie ein brennendes Flugzeug auf dem Berg abgestürzt ist. Wir hatten nichts besseres zu tun, als die Absturzstelle zu suchen. Nach etwa einer Stunde haben wir das Wrack gefunden, die verbrannten, kohlschwarzen Menschenleiber haben einen Eindruck auf mich gemacht, den ich nicht vergessen werde.
Fast bis zum Kriegsende waren wir in Neubeuern am Inn, Kreis Rosenheim untergebracht. Bei entsprechendem Wetter konnte man fast die Berge greifen. Im Schloß Neubeuern hatten die Nazis eine Napola untergebracht. Wir, die wir alle Arbeiterkinder waren, hatten oft Auseinandersetzungen mit ihnen, die bis zu Schlägereien gingen.
Es ging auf das Kriegsende zu und wir liefen täglich zu einem Ausmarsch, um körperlich fit zu bleiben und sangen dabei. Dabei wurden wir von amerikanischen Jagdbombern beschossen. Nur ein Sprung in den Straßengraben – der Gott sei dank trocken war – rettete uns.

Knut: Wie hast du vom Kriegsende erfahren?
Werner: Bei Kriegsende waren wir in Hohenthann bei Grafing in Oberbayern. Dort fühlte ich mich überhaupt nicht wohl, das Essen wurde bereits knapp. Als ich beim Küchendienst eingeteilt war, bemerkte ich, dass die Wirtsleute Zucker, Mehl und Milch an die Seite schafften. Ich hatte auch damals schon eine große Klappe und fragte nach der Milch. Da die Ernährungslage schlecht war, sammelten wir Sauerampfer, Brennnessel und ähnliches Gewächs, das sich verspeisen lässt. Daran erinnere ich mich, weil ich die Pflanzen kannte.
Ich weiß nicht mehr genau, im April oder Mai fuhren auf einmal Panzer vor. Die Bauernhäuser hatten weiße Betttücher ausgehängt und es fuhren amerikanische Panzer durch das Dorf. Ich befürchtete erst, weil sie einen Stern hatten, es wären russische Panzer – die wurden damals als Teufel dargestellt -, doch ich sah dort die ersten Neger, so nannte man damals die schwarzen Amerikaner.

Knut: Wie bist du nach Gelsenkirchen zurückgekommen?
Werner: Wir wurden ja nicht mehr versorgt, da der Staat nicht mehr funktionierte. Wir sind mit Bettelbriefen zu Bauern gegangen, damit diese uns aufnehmen und verpflegen, gegen unsere Mithilfe. Ich bin bei einem Landwirt mit Gastwirtschaft und Metzgerei untergekommen und musste mit 14 Jahren bei der Ernte helfen, den Kuhstall ausmisten usw. Ich war nicht alleine dort, sondern es gab auch ehemalige Soldaten, die sich der Gefangenschaft entzogen und mitgearbeitet haben. Mit ihnen habe ich mich gemeinsam auf die Heimreise gemacht, da sie auch nach Norddeutschland wollten. Nach sechs Tagen Fahrten auf verschiedenen offenen und geschlossenen Güterwagons kamen wir im Ruhrgebiet an.
In Gelsenkirchen ging ich zu dem Haus, in dem wir wohnten, bereits vorher traf ich meine Mutter vor dem Gemischtwarenladen an. Ich hatte zuvor gefundene Konservendosen den ganzen Weg bis nach Hause mitgeschleppt. Zuallererst musste ich in der Waschküche in einer großen Zinkbadewanne ein Bad nehmen. Ich vergesse nicht die dicke Schmutzschicht, die nach meinem Bad auf dem Wasser war.

Knut: Wie ging es dann weiter?
Werner: Ich ging für eine Zeit ins heutige Niedersachsen – das war damals auch die britische Besatzungszone – um in einem Gartenbaubetrieb zu arbeiten. Von dort habe ich versucht, Lebensmittel nach Hause zu schicken, was aber nicht klappte. Irgendwann habe ich Lebensmittelmarken geklaut und nach Hause geschickt.
Nach etwa einem Jahr kehrte ich nach Gelsenkirchen zurück. Dort musste ich noch ein Schuljahr nachholen, dass wegen der kriegsbedingten Ausfälle eingeführt worden war. Zum Teil waren Schüler dabei, die seit Jahren keinen ordentlichen Schulunterricht mehr gehabt haben. Ich habe mich gelangweilt und heimlich unter der Schulbank Karl May gelesen.
Als ältestes Kind war ich das „Familienoberhaupt“, ich fühlte mich meiner Familie verpflichtet und fuhr Hamstern, dabei wurde Hausrat gegen Kartoffeln u.ä. eingetauscht. Es gab damals das geflügelte Wort, „die Bauern haben im Kuhstall Teppiche“. Auf dem Schwarzmarkt haben wir Butter und Speck gekauft. Meine Mutter hatte viel Geld aus den Versicherungen, die sie aufgrund des Unfalltodes meines Vaters bekommen hatte, das wir in einem Winter auf dem Schwarzmarkt verfuttert haben.
Am 10.03.1947 begann ich im Bergbau als Berglehrling zu arbeiten. Ich bin Mitglied der Gewerkschaft geworden und engagierte mich ab da in der gewerkschaftlichen Jugendarbeit und später auch parteipolitisch, da ich einsah, dass die gewerkschaftliche Arbeit alleine nicht ausreicht.

Knut: Werner, ich danke für das Gespräch.
Werner: Bitteschön!

Werner Cichowski bei der Demonstration "umFAIRteilen" am 29. September 2012 in Bochum

Werner Cichowski bei der Demonstration „umFAIRteilen“ am 29. September 2012 in Bochum