… wo sie gewohnt, gelebt, geglaubt, getanzt, geträumt, gelacht und geweint haben …

Gunter Demnig am 14.08.2015 in Gelsenkirchen

Gunter Demnig am 14.08.2015 in Gelsenkirchen

Das größte dezentrale Denkmal der Welt des Kölner Aktionskünstlers und Bildhauers Gunter Demnig wächst. Weit über 50 000 Stolpersteine hat er in Deutschland und 18 weiteren europäischen Länder in den letzten Jahren zur Erinnerung an die von Nazis verfolgten und ermordeten Menschen verlegt, 20 sind heute in Gelsenkirchen dazugekommen. Jeder einzelne Stolperstein erinnert an ein Leben am letzten frei gewählten Wohn- oder Wirkungsort, „wo sie gewohnt, gelebt, geglaubt, getanzt, geträumt, gelacht und geweint haben“.

Eine ganze Seite widmete die lokale WAZ heute dem Thema. Ausführlich wurde über die Menschen berichtet, für die am heutigen Tag ein Stolperstein verlegt wurde. Allerdings konzentrierte sich die WAZ auf die verfolgten und ermordeten Juden, selbst den Namen des wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgten Ernst Papies sparte Karoline Poll aus und wies nur am Rande auf Straße und Uhrzeit hin. Doch das größte dezentrale Denkmal der Welt ist ein Denkmal, das keine Verfolgtengruppe der Nazis ausspart, sondern gleichermaßen an Juden, politisch Verfolgte, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Behinderte und auch an Homosexuelle erinnert.

Eine ganze Seite widmete die WAZ Gelsenkirchen dem Thema

Eine ganze Seite widmete die WAZ Gelsenkirchen dem Thema

Die Kunstaktion begann heute um 10 Uhr auf der Cranger Straße 398 in Gelsenkirchen-Erle mit der Verlegung eines Stolpersteins für Ernst Papies, den die Nazis wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgten und ins KZ sperrten. Er überlebte, aber nur um im Nachkriegsdeutschland erneut aus demselben Grund und mit dem gleichen Nazi-Paragrafen 175 verfolgt zu werden. Entschädigt wurde er nie.

Danach setzte der Künstler die Verlegung in Alt-Gelsenkirchen fort. Es folgten Stolpersteine für die Familie Jeckel im Pflaster der Hauptstraße 63, unweit des Consiliums. Sie waren von der sogenannten „Polenaktion“ betroffen gewesen, einer Ausweisungsaktion gegen polnische Juden, die einen lange vergessenen ersten Höhepunkt der Verfolgung kurz vor der Reichspogromnacht bildet. Über die sogenannte „Polenaktion“ berichtete ich bereits früher in diesem Blog am Beispiel der Familie Krämer Nach Polen abgemeldet.

Stolpersteine für die Familie Jeckel im Pflaster der Hauptstraße 63

Stolpersteine für die Familie Jeckel im Pflaster der Hauptstraße 63

Weiter ging es durch die Gelsenkirchener Innenstadt zur Ringstraße 67, in die Nähe des früheren Marienhospitals an der Kirchstraße. Hier wurden unter lautem Straßenlärm Stolpersteine für die Mitglieder der Familie Alexander verlegt. Natürlich erweckten die Verlegungen Neugier, bei vorbeilaufenden Passanten, aber auch bei Bewohnern des jeweiligen Hauses. Auch die an der Ampel wartenden Autofahrer schauten, neugierig, aber auch fragend zu uns.

Gut besucht war die Verlegung des Stolpersteins für den Rabbiner Dr. Siegfried Galliner am Platz der Alten Synagoge/Georgstraße 2

Gut besucht war die Verlegung des Stolpersteins für den Rabbiner Dr. Siegfried Galliner am Platz der Alten Synagoge/Georgstraße 2 – rechts oben im Bild die ebenfalls angebrachte Erinnerungsortetafel

Die Verlegungen wurden von Heike Jordan begleitet, die jeweils über das Leben und die Verfolgung berichtete. Das Kaddish wurde jeweils von einem freien Kantor gesungen. Gut besucht war die Verlegung des Stolpersteins für den Rabbiner Dr. Siegfried Galliner um 11 Uhr an der Georgstraße 2 an der Synagoge bzw. am Platz der Alten Synagoge. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Frau Judith Neuwald-Tasbach, war erwartungsgemäß nicht unter den Anwesenden; ihre Kritik an den Stolpersteinen dürfte bekannt sein. Kurz zuvor war eine städtische Erinnerungsortetafel für Dr. Siegfried Galliner an der Synagoge angebracht worden. Damit koexistieren an dieser Stelle beide Erinnerungsformen – sicherlich keine schlechte Lösung in dieser Frage.

Am früheren WEKA-Kaufhaus wurden die von Vertretern und Kreisverband der Die Linke gestifteten Stolpersteine für die Familie von Werner Goldschmidt in das Pflaster vor der Augustastraße 4 eingelassen. Hier zeigte sich die Routine Gunter Demnigs, der gut zu tun hatte, die vorhandenen Pflastersteine zu lösen, um die Stolpersteine einzulassen. Auf das „widerständige Pflaster“ ging Andreas Jordan in seinen Ausführungen ein, als er auf den Widerstandskämpfer Werner Goldschmidt zu sprechen kam. Hubertus Zdebel (Die Linke MdB) wies darauf hin, dass das Linke-Parteibüro nach Werner Goldschmidt benannt ist (Werner-Goldschmidt-Salon) und Die Linke mit dieser Stolperstein-Patenschaft allen Opfern und Widerstandskämpfern der Nazi-Diktatur gedenken will.

Viel Arbeit hatte Gunter Demnig hier mit dem Lösen des widerständigen Pflasters vor der Augustastraße 4 für die Stolpersteine der Familie Goldschmidt

Viel Arbeit hatte Gunter Demnig hier mit dem Lösen des widerständigen Pflasters vor der Augustastraße 4 für die Stolpersteine der Familie Goldschmidt

Werner Goldschmidt hatte sich bereits in den 1930er Jahren von seiner Religion losgesagt und 1933 einer linken Widerstandsgruppe gegen die Nazis angeschlossen. Er wurde verhaftet und zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, überlebte das Ghetto Riga und das Konzentrationslager Buchenwald und kehrte zunächst in das zerstörte Gelsenkirchen zurück. Hier heiratete er eine überlebende Jüdin und emigrierte in die USA.

Stolpersteine für die Familie Goldschmidt in der Augustastraße 4

Stolpersteine für die Familie Goldschmidt in der Augustastraße 4

Es folgten Stolpersteine für die Familie Broch im Pflaster der Von-der-Recke-Straße 11. Der Möbelhändler Broch war von der sogenannten „Arisierung“ betroffen, das Möbelhaus an der Bahnhofstraße übernahm der Möbelhändler Albert Heiland, der damit seine Konkurrenz ausschaltete. Die Patenschaft für die Stolpersteine, die an das Ehepaar Hugo und Theresa Broch erinnern, hat eine Enkelin Heilands, Margarete Reißig übernommen.

Die Verlegung für die Familie Höchster in der Feldmarkstraße 119 habe ich, wie auch die Verlegung für Ernst Papies in der Cranger Straße 398, nicht selbst begleitet und kann daher darüber nicht berichten. Mehr und ausführlich wie immer auf http://www.stolpersteine-gelsenkirchen.de/.

Supplement

Die WAZ trennt Gelsenkirchen haarscharf entlang des Kanals. In der Lokalausgabe von Gelsenkirchen-Buer erschien ein Artikel von Wolfgang Laufs über die Verlegung des Stolpersteins zur Erinnerung an den wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgten Ernst Papies. Im Stadtspiegel Gelsenkirchen gab es einen reich bebilderten Beitrag von Sven Kaiser zur Stolpersteinverlegung mit 71 Fotos!!! Auch die Ratsfraktion der Gelsenkirchener Linkspartei ließ die Stolpersteinverlegung Revue passieren, insbesondere – aber nicht ausschließlich – in Bezug auf die von ihnen gestifteten Stolpersteine für die Familie Goldschmidt.
In der Jungle World war bereits am 6. August 2015 ein Artikel erschienen, der den Beitrag der Stolpersteine für die lokale Erinnerungsarbeit hervorhob, allerdings – wie so oft – den Fehler machte, von „Shoah“ zu sprechen, und damit zu verdrängen, dass die Stolpersteine ein Denkmal für alle Verfolgten und Widerstandskämpfer sind. Davon abgesehen handelt es sich um einen sehr ausgewogenen Beitrag zur Diskussion, in dessen Zusammenhang ich auf einen früheren Beitrag von mir hinweisen möchte.
Und die Süddeutsche Zeitung bringt einen bemerkenswert persönlichen Beitrag von Sergey Lagodinsky, einem russisch-jüdischen Einwanderer, der in Berlin über Stolpersteine „stolpert“ und sich auf die Suche nach den Lebensgeschichten macht. In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass derselbe Autor schon den Artikel in der Jungle World geschrieben hatte.

Ein Gedanke zu „… wo sie gewohnt, gelebt, geglaubt, getanzt, geträumt, gelacht und geweint haben …

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