Wir wissen nur wenig über Charlotte Krämer

Knut Maßmann anlässlich der Stolpersteinverlegung am 8. Oktober 2012

Charlotte Krämer wurde am 12. Januar 1933 in Gelsenkirchen geboren. Sie ist ein Kind polnisch-jüdischer Eltern. Ihr Vater, Selig Uscher Krämer und ihre Mutter Perla Krämer, stammen aus Otynia in Südpolen. Dort war ihr großer Bruder Max Krämer am 3. März 1926 geboren worden. Im Jahre 1930 kam die Familie von Rotterdam nach Gelsenkirchen.

Wir können nur vermuten, was die 5jährige Charlotte empfunden hat, als ihr Vater kurz vor seinem 44. Geburtstag verhaftet wurde. Ihr Vater wurde wie rund 17.000 andere Juden polnischer Abstammung zwischen dem 27. und dem 29. Oktober 1938 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet und nach Polen abgeschoben.

In einigen Orten Deutschlands wurden ganze Familien ohne Rücksicht auf das Alter und den Gesundheitszustand ausgewiesen, in anderen Orten wurden nur die Männer verhaftet. Manche wurden mitten in der Nacht von Gestapo, SA oder SS aus ihren Wohnungen gescheucht und im Nachthemd mitgenommen, anderen wurde es erlaubt, ein wenig Handgepäck und Lebensmittel mitzunehmen. An Bargeld war pro Person maximal 10 Reichsmark erlaubt. Die Verhafteten wurden auf Polizeiposten oder in Gefängnissen, Turnhallen, Synagogen, Kasernen oder anderen Gebäuden untergebracht und erst nach Stunden zum Bahnhof gebracht. In der Mehrzahl handelte es sich bei ihnen um kleine Leute. Händler, Handwerker, Freiberufler, Arbeiter.

Wir können nur ahnen, was die 5jährige Charlotte empfunden hat, als sie und die anderen Familienmitglieder – die 38jährige Mutter Perla Krämer und der 12jährige Max Krämer – aus der vertrauten Wohnung in der Von-der-Recke-Straße 10 – vor der wir hier stehen – in das sogenannte „Judenhaus“ in der damaligen Hindenburgstraße 38, und heutigen Husemannstraße, umziehen mussten.

Wir können auch nicht wissen, wie viel die kleine Charlotte von den genauen Umständen der Abschiebung erfahren oder verstanden hat. Aber sie wird die Ängste und Sorgen und Unsicherheit der Erwachsenen, ihrer Mutter, gespürt haben.

Die Abschiebung über die polnische Grenze erfolgte unter katastrophalen Bedingungen. Die Transporte trafen auf kleine Grenzübergänge, die dem Ansturm nicht gewachsen waren. Einzelne Gruppen wurden unter Zurücklassung ihrer Gepäckstücke und ohne Passformalitäten über die grüne Grenze gejagt. Die größte Anzahl, etwa 9000 Menschen, wurde über den Grenzübergang Bentschen nach Polen abgeschoben, wo die überforderten polnischen Behörden sie zunächst in Eisenbahnwaggons festgehalten und in ehemaligen Kasernen und Ställen untergebracht haben. Zeitzeugen berichteten von unsäglichen Zuständen.

Wir wissen nicht, wie viel die kleine Charlotte zwei Wochen später in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von der Reichspogromnacht mitbekommen hat, als jüdische Geschäfte und Wohnungen gestürmt und geplündert wurden, als Juden misshandelt, verhaftet und in Konzentrationslager gebracht wurden.

In diplomatischen Verhandlungen mit Polen setzte Nazi-Deutschland seine Position durch. Die Abgeschobenen durften noch einmal an ihren früheren Wohnort zurückkehren, um mit ihren Familien, persönlichen Gegenständen, evtl. der Wohnungs- oder Werkstatteinrichtung nach Polen auszureisen. Die Kosten mussten die Betroffenen selbst tragen.

Wir können nur vermuten, was die inzwischen 6jährige Charlotte empfunden hat, als sie ihren Vater nach fast 6 Monaten am 13. April 1939 wiedersah. Auch Charlottes Vater durfte zurückkehren, um seine bürgerliche Existenz in Deutschland aufzulösen. Die ganze Familie Krämer wurde dann im Mai 1939 in den Einwohnermeldeunterlagen der Stadt Gelsenkirchen mit dem Vermerk „nach Polen abgemeldet“ ausgetragen.

Keine 4 Monate später – am 1. September 1939 – entfesselte Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg und die Wehrmacht überrollte Polen. Die Spuren der in Polen gebliebenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen eingerichteten Ghettos. Doch die Schicksale anderer Abgeschobener bleiben bis heute ungewiss.

Dies betrifft auch die Familie Krämer. Die Spur der sechsjährigen Charlotte und ihrer Familie verliert sich im Mai des Jahres 1939.

Das ist alles, was wir wissen!

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