150 Jahre Deutsches Kaiserreich und Pariser Kommune – Woran wollen wir (uns) erinnern?

Gedenken am 13. März 2021 zur Erinnerung an die ermordeten Arbeiterinnen und Arbeiter.

– Aus Anlass der Gedenkfeier für die Märzrevolution 1920 gestern
Erst unlängst wurde medial daran erinnert, dass vor 150 Jahren das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde. Dieses Kaiserreich wurde im Krieg gegen Frankreich „mit Blut und Eisen geschmiedet“ (Fürst Bismarck) und – Frankreich demütigend – am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal im Schloß von Versailles nahe Paris ausgerufen. Ebenfalls vor 150 Jahren, am 18. März 1871, wurde in Paris die Pariser Kommune gegründet. Sie gilt als erste Rätedemokratie und verwaltete Paris nach sozialistischen Vorstellungen. Nach 72 Tagen wurde sie durch die konservativ-republikanische Regierung Frankreichs blutig niedergeschlagen.

An beide Ereignisse von vor 150 Jahren können wir uns als Individuen nicht mehr erinnern, da wir sie nicht selbst erlebt haben. Erinnern können wir uns nur an Ereignisse aus unserer eigenen Lebensspanne. Doch wir können an die Ereignisse – aus heutiger Sicht – erinnern. In der Erinnerungskultur tritt daher neben dem individuellen Erinnern ein „Erinnern an“. Hier spielen „runde“ Gedenktage, materiale Hinterlassenschaften oder Denkmale eine große Rolle. Die beiden Kulturwissenschaftler*innen Aleida und Jan Assmann unterscheiden in dieser Hinsicht zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnis. Erinnerung wird als Sinnzusammenhang gedeutet und zur historischen Erzählung. Das gilt für die eigene Erinnerung und noch viel mehr für die kulturellen Erinnerungen, für das „Erinnern an“.

Was bleibt, ist die Frage der Auswahl. Woran wollen wir (uns) erinnern? Im Allgemeinen wird an große Leistungen und positive Ereignisse erinnert. Klassischerweise gehört für einen Nationalstaat die Erinnerung an die eigene Gründung dazu. Niederlagen und Rückschläge werden eher verdrängt, es sei denn, sie waren Ausgangspunkt für einen neuerlichen Erfolg. Interessanterweise hat sich in Deutschland seit etwa Mitte der 1980er Jahre eine Erinnerungskultur geformt, die an die Verbrechen der eigenen faschistischen Vergangenheit erinnert, sich zugleich davon „distanziert und zu zivilgesellschaftlichen Werten bekennt“ (Aleida Assmann).

Zurück zu den Ereignissen vor 150 Jahren. Möchten wir uns heute an die Gründung eines Kaiserreiches „mit Blut und Eisen geschmiedet“ erinnern? Ein Kaiserreich, das 1914 den Ersten Weltkrieg entfesselte, verlor und dessen Eliten anschließend den Aufstieg des Faschismus beförderten, der 1939 den Zweiten Weltkrieg entfesselte, Vernichtungskrieg im Osten und Holocaust inklusive?

Erinnern könnten wir zum Beispiel an die beiden sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel und Wilhelm Liebknecht (SDAP), die vor 150 Jahren als einzige sich bei der Bewilligung der Kriegskredite enthielten und als Begründung anführten, dass es sich um einen „dynastischen Krieg“ handele („Keine Taler für den Krieg“). Sie hatten den Mut, trotz der französischen Kriegserklärung durch den beleidigten französischen Kaiser Napoleon III., nicht für die Kriegskredite zu stimmen. (Einen Mut, den die SPD 1914 leider nicht hatte.) Erinnern könnten wir beispielsweise auch an die Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen, die sich in Paris gegen die neugebildete konservative Regierung erhoben, demokratische Wahlen abhielten, Frauenrechte schufen und Gewerkschaften stärkten. Erinnern könnten wir auch daran, dass diese Utopie nur 72 Tage existierte und blutig niedergeschlagen wurde, weil sie den Herrschenden in Frankreich wie im neugegründeten Deutschen Kaiserreich nicht passte.

In Gelsenkirchen wurde gestern erinnert, und zwar an die Märzrevolution 1920, die blutig niedergeschlagen wurde, weil sie den Herrschenden nicht passte.