Wer wie ich in dieser Woche an zwei sehr unterschiedlichen Veranstaltungen in Gelsenkirchen teilgenommen hat, kann sehr gut erkennen, wie geteilt öffentliche Wahrnehmung und öffentliche Aufmerksamkeit in meiner Heimatstadt (und nicht nur hier) sind. In beiden Veranstaltungen war übrigens die zunehmende Rechtsentwicklung einer enthemmten bürgerlichen Mitte (wenn auch anders bezeichnet) im Hintergrund präsent.
Am 9. November 2016 fand zum wiederholten Mal eine Veranstaltung der „Demokratischen Initiative“ zum Gedenken an die Ereignisse der Reichspogromnacht 1938 statt. Nach dem Skandal um die Kundgebung am Nazi-Schwert im vergangenen Jahr haben die Veranstalter in diesem Jahr eine wesentlich bessere äußere Form gewählt. Von der Neuen Synagoge zog nach einer Rede des Oberbürgermeisters und zwei jüdischen Gebeten zur Erinnerung an die ermordeten Juden der Schweigezug durch die Innenstadt zum Musiktheater im Revier. Im Kleinen Haus folgte nach einem musikalischen Beitrag die Rede des Generalintendanten Michael Schulz. Es war eine kluge Rede, deren zentralen Punkte an anderer Stelle nachgelesen werden können. Vom mündlichen Vortrag blieben mir zwei Punkte in Erinnerung: Erstens ermutigte Schulz die Zuhörer, sich von PEGIDA & Co. nicht überrumpeln zu lassen, sondern an wichtigen demokratischen Errungenschaften festzuhalten und diese zu verteidigen. Zweitens das völlige Fehlen von Kritik daran, wie die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte die Entstehung von AfD und PEGIDA begünstigt hat.
Hier fände ich es wünschenswert, wenn die Veranstaltung sich wieder an ihre Ursprünge erinnert: 1964 wurde erstmalig in Gelsenkirchen an diesem Jahrestag an die Verbrechen Nazi-Deutschlands erinnert. Damals wurde die Veranstaltung von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken durchgeführt. Auch wenn es sich um eine SPD-nahe Kinder- und Jugendorganisation handelt, so scheinen mir die Falken doch sehr viel kritischer gegenüber der herrschenden Politik zu sein, als es die Erwachsenen der etablierten Stadtgesellschaft sind. Stattdessen wurde die Jugend zur Staffage degradiert, die brav das Transparent auf der Bühne des Kleinen Hauses halten durfte, während der Generalintendant seine Rede hielt. Aus der Geschichte lernen? So bitte nicht!
Am 12. November 2016 fand die erste Sozialkonferenz für Gelsenkirchen in der Gesamtschule Ückendorf statt. „Zeit für Veränderung“ benannte die Partei DIE LINKE ihre Veranstaltung. Themen waren Armut, soziale Ausgrenzung und kommunale Spielräume. Nach Vorträgen von Christian Woltering (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband) und Prof. Dr. Ute Fischer (FH Dortmund) folgte eine viel zu knapp bemessene Arbeitsgruppenphase. Im Anschluss an die Präsentation der Arbeitsgruppenergebnisse folgte ein Podiumsgespräch mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Dr. Werner Rügemer, dem Sozialdezernenten der Stadt Gelsenkirchen Luidger Wolterhoff, dem Gelsenkirchener IG Metall-Vorsitzenden Robert Sadowsky und der stellvertretenden NRW-Landesprecherin der Linke Ingrid Remmers. Die Moderation übernahm Hartmut Hering, Sprecher der Gelsenkirchener Linke.
Die beiden Vorträge von Woltering und Fischer brachten sehr informativ und kompakt das Problem von Armut und sozialer Ausgrenzung auf den Punkt. Armut und die Spaltung zwischen arm und reich nehmen immer weiter zu. Zugleich nimmt die Segregation innerhalb der Stadt zu. Das Podiumsgespräch nahm die Themen der Sozialkonferenz auf und beleuchtete sie von verschiedenen Seiten.
Ein „offizielles“ Resümee der Veranstaltung kann ich nicht bieten. Zu erkennen ist jedoch, dass Armut nur abgebaut werden kann, wenn die wachsende Ungleichverteilung der Einkommen gestoppt wird und die wirklich Reichen an der Finanzierung des Staates angemessen beteiligt werden. Doch ist es augenscheinlich schwer, für diese Politik eine Mehrheit zu finden, solange die Mehrheit befürchtet, selbst zur Kasse gebeten zu werden. Die bürgerliche Mehrheit propagiert stattdessen wie am 9. November die Verteidigung der demokratischen Errungenschaften – und vergisst die Verteidigung sozialer Errungenschaften. Doch beides ist notwendig, wenn wir in Deutschland demokratische Verhältnisse behalten wollen.
Supplement
EInen Bericht über die Sozialkonferenz brachte die örtliche WAZ in ihrer Druck- und Online-Ausgabe. Über den Zusammenhang von prekärer Beschäftigung und Altersarmut wurde auch auf einer Podiumsdiskussion der IG BAU am Sonntag diskutiert. Auch hierüber berichtete die WAZ Gelsenkirchen.