Stadt Gelsenkirchen hält Nazi-Raubkunst in Geiselhaft – und (fast) niemanden stört es

Fast unbemerkt ist an mir ein Skandal um Nazi-Raubkunst in Gelsenkirchen vorbeigegangen – und offensichtlich bin ich in „guter Gesellschaft“, denn auch sonst scheint es (fast) niemanden in Gelsenkirchen zu stören. Und das ist der eigentliche Skandal. Nur „Lovis und die Corinthen“ fordern die bedingungslose Rückgabe des Bildes.

Bei der Nazi-Raubkunst handelt es sich um das Gemälde mit dem Titel „Bacchanale“ von Lovis Corinth aus dem Jahre 1896. Der 1858 in Ostpreußen geborene Maler und sein Werk waren mir bis zu der Recherche, die zu diesem Beitrag führte, vollkommen unbekannt. Er gilt als wichtiger Vertreter des deutschen Impressionismus. Das Gemälde „Bacchanale“ zeigt, wie der Titel unschwer vermuten lässt, den Weingott Baccus inmitten fröhlicher, betrunkener und nackter Menschen.

"Bacchanale" (1896) von Lovis Corinth, 117 x 204 cm, Öl auf Leinwand, Impressionismus, derzeit im Kunstmuseum Gelsenkirchen ausgestellt.

„Bacchanale“ (1896) von Lovis Corinth, 117 x 204 cm, Öl auf Leinwand, Impressionismus, derzeit im Kunstmuseum Gelsenkirchen ausgestellt.

Den verschiedenen und sich bisweilen widersprechenden Berichten lässt sich die folgende Chronologie entnehmen. Die ursprünglichen jüdischen Eigentümer, die Familie S. aus Berlin mussten 1936 ihre gesamte Habe unter Wert zwangsversteigern. Ihre Flucht nach Amsterdam brachte sie wie viele andere Juden nur für kurze Zeit in Sicherheit. Nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht begann auch in den besetzten Niederlanden die Judenverfolgung. 1942 wurde die Familie deportiert, die Kinder wurden in Auschwitz ermordet, der Vater in Bergen-Belsen. Nur die Ehefrau überlebte und wurde 1945 aus dem KZ befreit.

1957 erwarb die Stadt Gelsenkirchen das Gemälde für das heutige Kunstmuseum in einer Galerie in Köln für 14.500 DM.

1962 erhielt die überlebende Ehefrau eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz in Höhe von 33.200 DM für den gesamten Verlust, darunter 600 DM für das Gemälde. Die damals 76 Jahre alte Frau war durch die erlittene Verfolgung gezeichnet. Sie verstarb 1971 und vermachte ihr Erbe testamentarisch an einen Großneffen und eine Großnichte. Ihre Erben erheben nun Anspruch auf das Werk und berufen sich auf die „Washingtoner Erklärung“ (1998), die eine Übereinkunft bezeichnet, nach der in Fällen von Nazi-Raubkunst „faire und gerechte Lösungen“ angestrebt werden sollen.

2010 wandte sich der Potsdamer Anwalt Prof. Dr. Fritz Enderlein, der die Erben vertritt, ohne Ergebnis an das Kunstmuseum. Als nichts geschah, wandte er sich 2012 an den Oberbürgermeister mit der Bitte, Verhandlungen über die Rückgabe des Bildes zu führen..

Seit November 2014 machen Berichte in der lokalen WAZ (1, 2, 3, 4, 5) den Fall öffentlich, doch widersprechen sich die Berichte wie auch die Darstellung der beiden Parteien in Teilen, was es der interessierten Öffentlichkeit möglicherweise Schwierigkeiten bereitet, sich eine Meinung zu bilden.

Im Juni 2015 berichtete Chajm Guski in den Ruhrbaronen über den Vorgang und gibt den Wortlaut des Offenen Briefes des Rechtsanwalts der Erben an den Oberbürgermeister und die Stadtverordneten wieder, in dem dieser den Inhalten der Verwaltungsvorlage deutlich widerspricht und eine Rückgabe des Bildes fordert.

Im August 2015 berichtet das HerrKules-Magazin kurz darüber – allerdings ohne selbst Position zu beziehen. Danach haben inzwischen beide Parteien die „Limbach-Kommission“ angerufen, die sich im Geist der „Washingtoner Erklärung“ mit Nazi-Raubkunst beschäftigt und beiden Parteien Vorschläge unterbreiten wird. Anlass für diesen Bericht war wohl die Zusendung eines Anschreiben und Flyers einer Aktionsgruppe, die sich „Lovis und die Corinthen“ nennt und die Stadt als „Geiselnehmer des Gemäldes“ bezeichnet. Sie fordern stattdessen die bedingungslose Rückgabe des Bildes. Dieser Forderung kann ich mich nach dem oben dargestellten Ergebnis meiner Recherche nur anschließen.

Einen solchen Antrag hatte auch der bündnisgrüne Kulturpolitiker Bernd Matzkowski in seiner Partei gestellt. Dieser war jedoch abgelehnt worden. Wie er in diesem Blog in einem Kommentar mitteilte, war das für ihn der Anlass gewesen, seine Partei zu verlassen.

4 Gedanken zu „Stadt Gelsenkirchen hält Nazi-Raubkunst in Geiselhaft – und (fast) niemanden stört es

  1. Bernd Matzkowski

    eigentlich wollte ich ja nicht mehr hier schreiben, aber nun doch:
    der ursprüngliche beitrag wurde verändert. er enthielt ein supplement, das
    1. onkelhaft meinte mitteilen zu müssen, ich sei in dieser sache wohl in der falschen partei gewesen (das lasse ich mal unkommentiert)
    2. die behauptung aufstellte, die organisierte linke(in gestalt von herrn gatzemeier) habe die rückgabe gefordert. dieses supplement wurde wohl zurückgezogen, weil die behauptung zu 2) unrichtig war. ausweislich des protokolls der sitzung vom 17.6.2015(Aussschuss für Kultur, Top 8, Restitution des Corinth-Gemäldes) gibt es keinen entsprechenden antrag des vertreters der linken zu diesem thema, noch nicht einmal eine wortmeldung. es gibt auch keine nein-stimme zur vorlage der verwaltung(!!), sondern lediglich eine enthaltung (von herrn gatzemeier).
    soweit zur richtigstellung.

    dann zur sache:es sei der hinweis gegeben, dass sich das im herrkules abgedruckte schreiben an die kulturredakteurin der waz richtete, die allerdings das thema(bzw. die aktion/initiative) nicht behandelte.
    dann noch dies: die im brief an die waz angegebene anschrift von „lovis und die korinthen“ ist die postalische anschrift des städtischen kunstmuseums. als verfasser des schreibens firmiert ein gewissser Jochanaan Leuchtentrager; hierbei handelt es sich um eine figur aus stefan heyms roman „Ahasver“.

    1. Knut

      Eigentlich sollte es müßig sein, ein bereits gelöschtes Supplement nachträglich zu kommentieren, das kann sich ja schließlich nicht mehr wehren. – Was mir aber bei dieser Angelegenheit mit der Raubkunst wieder mal auffällt, ist, dass es in verschiedenen Parteien Leute mit ähnlichen oder gleichen Positionen gibt, die aber nicht zusammenfinden um gemeinsam etwas zu unternehmen.

  2. Bernd Matzkowski

    stimmt, das supplement kann sich nicht wehren(auch gegen seine streichung nicht), aber der verfasser könnte den vorgang erklären(im sinne von: eine begründung für das wegfallen liefern).

  3. Knut

    Lieber Bernd,
    ich habe das Supplement wieder gelöscht, weil mir mein Ton und meine Aussage nicht gefallen haben. Das ist der Vorteil eines eigenen Blogs, dass man einen „Kurzschluss“ auch wieder zurückholen kann.
    Neben der Frage, warum es in dieser Frage keine Zusammenarbeit über Partei-/Organisationsgrenzen hinweg gegeben hat, treibt mich mehr die Frage um, warum das Thema so wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Vielleicht hängen diese beiden Fragen ja eng zusammen?
    Mit freundlichen Grüßen
    Knut

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