Eindrücke vom 9. November 2013

ausgebrannte Synagoge Alt-Gelsenkirchens nach dem 9. November 193875 Jahre nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 rief die „Demokratische Initiative“ unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters Frank Baranowski wie auch in den Jahren zuvor zu einer Gedenkveranstaltung auf. Seit 1964 findet diese jährliche Gedenkveranstaltung statt, die ursprünglich 1964 von der SJD Die Falken organisiert wurde.

Mit einem Schweigezug ging es ab 17.30 Uhr vom Bahnhofsvorplatz (vor der alten Post, dem jetzigen Verwaltungsgericht) über die Bahnhofstraße, der Von-der-Recke-Straße, der Ahstraße, der Parkanlage Robert-Koch-Straße zum Neuen Hans-Sachs-Haus.

Auf der Bahnhofstraße hatte es bis 1938 noch zahlreiche Geschäfte von jüdischen Besitzern gegeben, in der Von-der-Recke-Straße hatten wie überall in der Innenstadt jüdische Familien gewohnt. An der Ahstraße stand vor dem Bau des orangefarbenen Hamburg-Mannheimer-Hochhauses das alte Rathaus, welches ab 1932 Sitz der Polizei und später auch der Gestapo wurde. Hier wurden rassisch und politisch Verfolgte inhaftiert und gefoltert. In der Parkanlage Robert-Koch-Straße führte der Zug an einer im Dunkeln leider kaum erkennbaren Sandsteinskulptur vorbei, die bei einem internationalen Workcamp mit Jugendlichen aus dem Tossehof zum Thema Rassismus entstand. (Am englischen Begriff „Workcamp“ kann man übrigens bemerken wie sehr die Nazis die deutsche Sprache beschädigt haben. Wer würde für eine internationale Jugendbegegnung die deutsche Übersetzung „Arbeitslager“ benutzen?)

Die Abschlusskundgebung fand im Neuen Hans-Sachs-Haus statt. Das alte Hans-Sachs-Haus, von dem nur noch die Fassade und der Hotelturm erhalten sind, war auch in der Nazizeit Sitz der Stadtverwaltung.

Im Bürgerforum des Neuen Hans-Sachs-Hauses lasen Schülerinnen aus ihren Eindrücken von der Fahrt nach Auschwitz im Jahre 2012 vor, die der Ziegenmichel e.V. organisiert hatte. Eine der Schülerinnen war auch jetzt noch so bewegt, dass sie über die ersten zwei Sätze ihrer Eindrücke nicht hinauskam. Es folgten zwei bewegende Musikstücke von Viktoria und Benjamin Sarainski.

In seiner Rede betonte der sozialdemokratische Oberbürgermeister Frank Baranowski unter anderem, dass die Ereignisse, die zu Auschwitz führten, nicht irgendwo stattgefunden haben, sondern auch in Gelsenkirchen und es auch heute noch beschämend sei, wie wenig Widerstand den Nazis entgegengebracht worden sei. Man habe damals der Inszenierung, sie stünden für Recht und Ordnung, geglaubt. (Nun, ich nehme an, viele Menschen aus dem deutschen Bürgertum waren damals froh gewesen, als die Nazis erst die Kommunisten, und dann die Sozialdemokraten und Gewerkschafter einsperrten. Und von der „Arisierung“ genannten Enteignung jüdischen Besitzes wird ja wohl auch jemand profitiert haben.)

Es folgte ein Film über die oben bereits erwähnte Auschwitz-Fahrt, in der unter anderem mehrere Jugendliche zu Wort kamen und ihre Eindrücke schilderten. Der Film war schwarzweiß und die Aufnahmen aus der „Todesfabrik“ Auschwitz schienen wie aus einer anderen Welt zu stammen.

Die Veranstaltung endete traditionsgemäß mit dem Singen des „Moorsoldatenliedes“, mit dem „Altfalken“ Günther Bargel an der Gitarre und dem Publikum.

Auf dem Bahnhofsvorplatz und während des Schweigezuges verteilte die örtliche Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Flugblätter, in denen auf Stolpersteine hingewiesen wurde, die an die jüdischen Opfer des Pogroms 1938 erinnern und die die Veranstaltung der Demokratischen Initiative weder einbezog noch erwähnte. Rund zwei Drittel der inzwischen 78 Stolpersteine erinnern an jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens, die auch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von der Gewalt der Nazis betroffen waren. Weitere Stolpersteine werden auch auf der Bahnhofstraße folgen und die Gelsenkirchener während des Einkaufens an die Ereignisse erinnern.

7 Gedanken zu „Eindrücke vom 9. November 2013

  1. Andreas Jordan

    Ein Oberbürgermeister, der in seiner Rede zum 75. Jahrestag der Pogromnacht sagt, Zitat: „Obwohl unsere Stadt keine Nazi-Hochburg war, ging die Gleichschaltung Gelsenkirchens weitgehend reibungslos vonstatten.“ macht mich doch sehr nachdenklich. Ist das noch Meinungsfreiheit oder bereits Geschichtsrevisionismus?

    1. Chajm

      Ist vermutlich Auslegungssache desjenigen, der die Rede hält. Was ist für ihn eine »Nazi-Hochburg«? 30 Prozent bei den Wahlen? Eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern der Partei?
      Ab wann ist eine Stadt eine Hochburg? Reicht es nicht aus, wenn diejenigen, die am Ruder sind und die Richtung vorgeben, die Ziele des kommenden Regimes unterstützten? Sicher war Gelsenkirchen auch nicht gerade das Zentrum des zivilen Ungehorsams.
      Grundsätzlich scheint es die Tendenz zu geben, bestimmte Vorgänge ein wenig zu verharmlosen.
      Ich erinnere an die verharmlosenden Leserbriefe, welche die WAZ abdruckte, als es um die »Arisierung« jüdischer Geschäfte – auch durch Spieler von Schalke 04 ging. »Man konnte doch nicht wissen, wo das hinführt…« und »…das haben doch alle gemacht«.

      1. Knut

        Wikipedia definiert wie folgt:
        „Als Parteihochburg werden Orte, Wahlbezirke, Wahlkreise oder Regionen, bezeichnet an denen die jeweilige politische Partei mehrfach besonders hohe Stimmenanteile erhalten hat. Das ist durch die Parteitradition, durch bestimmte Wählerschichten, durch Stammwähler, die in der Region überwiegend leben oder durch andere Umstände zu begründen.“

        http://de.wikipedia.org/wiki/Parteihochburg

  2. Knut

    Die Rede unseres Oberbürgermeisters war leider oberflächlich. Tatsächlich war im Ruhrgebiet die KPD sehr stark, aber die Kommunisten waren auch die ersten, die in die frühen, „wilden“ KZs der SA eingesperrt und ver- bis totprügelt worden sind. Und die Stadtverwaltung war sicherlich bürgerlich bis deutschnational gesinnt, so dass dort kein Widerstand zu erwarten war. Man war ja Staatsdiener. So konnte die „Geichschaltung“ weitgehend reibungslos vonstatten gehen …

    Einen Kommentar gibt es auch hier:

    http://www.gelsenkirchener-geschichten.de/viewtopic.php?p=403428#403428

    1. Andreas Jordan

      „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus – die „Stadt der 1000 Feuer – Trotz des Übergewichts der KPD ist Gelsenkirchen schon früh eine Hochburg der NSDAP – bis Ende 1932 sitzt hier die Gauleitung für Westfalen-Nord. Auch nach der Übersiedelung der Gauleitung nach Münster bleibt die Bindung des Gauleiters Alfred Meyer an die Stadt bestehen. Die Nationalsozialisten inszenieren Gelsenkirchen als die „Stadt der 1000 Feuer“ – eine ehemalige „rote Hochburg“ und Arbeiterstadt, die vorbildhaft zum Hakenkreuz übergegangen sei. Dementsprechend besitzt Gelsenkirchen eine hohe Bedeutung für die NS-Propaganda. Zwischen 1936 und 1938 finden die Gauparteitage der NSDAP für Westfalen-Nord in Gelsenkirchen statt.“ Quelle: http://www.lebensgeschichten.net/selcont3.asp?typ=RG&value=890

      Nicht zu vergessen die Inszenierungen um: Schalke, Mölders, Kirdorf, Knickmann usw.

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